Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
tauschen, doch das Mädchen sagt: »Das geht nicht, sie werden mich töten, wenn ich auf einmal an deiner Stelle im Tempel bin.« Da erwidert das Pferd: »Nein, du musst nur auf alle Fragen antworten: ›Das wissen die Götter‹, und dich weise umschauen. Der Rest wird sich fügen.«
Und tatsächlich kommt das Mädchen um Mitternacht und tauscht mit dem Pferd die Plätze. Das Pferd entschwindet in die Freiheit, in die Wildnis, und sagt zum Abschied noch: »Vergiss nicht, dass du einen guten Freund hast, der immer an dich denkt.« Am nächsten Tag wacht das Mädchen in dem Tempel auf, inmitten einer Menschenmenge, die sie erstaunt fragt: »Wie kommst du hierher?« Sie erwidert nur: »Das wissen die Götter.« Als sie das drei-oder viermal geantwortet hat, fallen die Leute auf die Knie und sagen: »Sie ist eine Göttin, sie weiß alles.« Sie bringen ihr Geschenke und huldigen ihr und bauen ihr einen noch größeren Tempel, und sie wird unermesslich reich, aber je älter sie wird, desto unglücklicher und einsamer fühlt sie sich. Das Pferd, der einzige Freund, den sie hatte, bleibt verschwunden, und sie hat große Sehnsucht nach ihm. Eines Nachts kommt das Pferd tatsächlich zurück, es ist jetzt ein altes, müdes Pferd, das den Kopf hängen lässt, und es sagt zu ihr: »Ich bitte um eine Stallecke, in der ich sterben kann.« Das Mädchen fragt: »Ja, warst du denn nicht glücklich mit deiner Freiheit?« Und das Pferd antwortet: »Nein. Freiheit ist nichts ohne Freundschaft.« Dann fragt das Pferd: »Bist denn du nicht glücklich mit deinem Reichtum?« Und das Mädchen sagt: »Nein. Auch Reichtum ist nichts ohne Freundschaft.« Dann schlingt sie ihre Arme um den Hals des Pferdes, und sie weinen gemeinsam, und in diesem Moment verwandelt sich das alte Pferd in einen schönen Prinzen, der sagt: »Nichts ist schön ohne Liebe und Freundschaft.« Da sagt das Mädchen: »Das wissen die Götter«, und sie verlassen zusammen den Tempel.
Dieses Märchen enthält neben den wunderschönen Begegnungsmotiven eine Vision. Dieser letzte Satz, der da lautet: Sie verließen zusammen den Tempel, erinnert mich an die Zauberflöte , eine Oper, die mein alter, weiser Freund Helmut Remmler – der auch Waage war – in Vorträgen und Büchern immer wieder interpretiert hat. Für ihn war sehr bedeutsam, dass es in der Schlussszene, als Tamino und Pamina gemeinsam den Prüfungsweg gehen, heißt: Die Götter selbst beschützen sie. In seinen Augen bedeutet das, dass im neuen Zeitalter jeder Mensch seine individuelle Anbindung an das Göttliche finden muss, ohne Mittler, ohne eine Priesterkaste, wie sie in der Zauberflöte durch Sarastro verkörpert wird. Das ist in dem schönen Märchen Das wissen die Götter in der Schlussszene durch das Verlassen des Tempels ausgedrückt.
Erst steht das Männliche im Tempel, das ist das Patriarchat, dann das Weibliche, aber auch das ist keine Lösung. Diese Geschichte zeigt, wie Einseitigkeiten im Laufe einer Entwicklung korrigiert werden können, um irgendwann die Gegensätze zu versöhnen. Sehr vereinfacht gesagt: Wenn du wie dieses heilige Pferd lange Zeit eingesperrt warst, dich gefangen gefühlt hast – und das Gefängnis kann durchaus auch so ein nobles Tempelgefängnis sein, in dem du eine wichtige Rolle spielst, wo alle dich bewundern -, wenn du Gefangener dieser Persona bist und nicht ausschlagen kannst, deine wilde, ungezähmte, freiheitsliebende Seite nicht ausleben kannst, ist es wichtig, auszubrechen in die andere Welt, dorthin, wo dich niemand kennt, ohne Persona, um wieder zu merken, wie Freiheit schmeckt. In der ganz anderen Welt, im anderen Extrem, wirst du herausfinden, dass auch das nicht glücklich macht. Keine Einseitigkeit macht auf Dauer glücklich, das ist die Weisheit von Waage. Letztlich ist darin auch ausgedrückt, dass wir alle, wenn wir ein Extrem zu stark oder zu lange leben, Gefahr laufen, in den Gegenpol zu kippen.
Es kann passieren, dass ein Mensch, der nur gut ist und keiner Fliege etwas zuleide tun kann, auf einmal Amok läuft, weil seine marsische Schattenseite, die so lange nicht mitleben durfte, auf einmal mit Macht ausbricht. Ein braver Familienvater oder eine treu sorgende Mutter, die sich jahrzehntelang für ihre Familie aufgeopfert haben, können kurz Zigaretten holen gehen und nie wiederkommen. In diesem Fall ist die Freiheitssehnsucht als Gegenpol zur Welt der Pflichterfüllung, des Funktionierens, der Aufopferung so monströs angewachsen, dass sie sich auf
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