Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tierarzt kommt

Der Tierarzt kommt

Titel: Der Tierarzt kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
Vom Netzwerk:
Briefschlitz geworfen haben.
    Ich schaute die Straße hinunter. Niemand war zu sehen, aber an der Kurve unten, wo sich die Straßenlaternen in Robsons Schaufenster spiegelten, glaubte ich, einen kleinen Schatten fliehen zu sehen. Da war nichts mehr zu machen, aber ich wußte, daß es nur Wes gewesen sein konnte.
    Was hatte der Bengel nur gegen mich? Ich hatte ihm nie etwas getan, und doch schien ich ein bevorzugtes Ziel seiner bösen Streiche zu sein. Vielleicht war es nicht persönlich gemeint, und vielleicht hielt er mich auch nur für ein bequemes Opfer.
    Jedenfalls war ich die ideale Zielscheibe für den dummen Streich, an der Tür zu klingeln und dann wegzulaufen. Ich konnte das Klingeln nicht überhören, denn ich mußte schließlich die Kunden hereinlassen. Außerdem war es ein langer Weg von der Praxis bis zur Haustür. Manchmal klingelte er mich aus dem Schlafzimmer, und dann war es besonders entnervend, wenn ich unten ankam und nur die kleine Gestalt in der Ferne erblickte, die mir Grimassen schnitt.
    Zur Abwechslung schob er mir zuweilen Abfälle durch den Briefschlitz, riß im Vorgarten die Blumen ab oder schmierte Schimpfwörter auf meinen Wagen.
    Ich war nicht sein einziges Opfer. Dem Gemüsehändler verschwanden die Äpfel von der Auslage vor seinem Laden, und der Krämer belieferte ihn ganz unfreiwillig mit Süßigkeiten.
    Er war der böse Bube unserer Stadt, und der ehrwürdige Name Wesley paßte wenig zu ihm. Nichts in seinem Benehmen wies auf eine strenge methodistische Erziehung hin. Ich kannte seine Eltern nicht und wußte nur, daß er in der ärmsten Gegend der Stadt wohnte und höchstens zehn Jahre alt war.
    Seinen größten Triumph feierte er zweifellos, als er den Gitterrost über dem Kohlenkeller vom Skeldale House entfernte. Er lag links vom Hauseingang und verschloß den Schacht zum Kohlenkeller.
    Ich weiß nicht, ob er einer besonderen Eingebung folgte, aber er tat es ausgerechnet am Tage des Darrowby-Galas. Das Fest begann mit einer Parade mit Blasmusik, und als ich aus dem Schlafzimmerfenster schaute, sammelte sich der Aufmarsch gerade auf der Straße.
    »Schau, Helen«, sagte ich. »Wahrscheinlich marschieren sie dieses Mal von hier aus los.«
    Helen lehnte sich über meine Schulter und blickte auf die langen Reihen von Pfadfindern und Kriegsveteranen, und halb Darrowby stand dichtgedrängt auf den Bürgersteigen und schaute zu. »Komm doch mit hinunter. Ich möchte gern sehen, wie sie abmarschieren.«
    Als wir aus dem Haus traten, wurde mir plötzlich bewußt, daß ich der Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit war. Die wartende Menge hatte plötzlich wieder Gesprächsstoff. Ich konnte erraten, was sie sagten. »Das ist der junge Tierarzt, Mr. Herriot. Hat gerade geheiratet. Die da neben ihm ist seine Frau.«
    Ein Wohlgefühl überkam mich. Ich war stolz auf Helen und stolz darauf, daß ich in dieser Stadt Tierarzt war. Am Haus prunkte mein Namensschild, das Symbol meiner wichtigen Funktion. Ja, jetzt war ich jemand, jetzt hatte ich etwas erreicht.
    Ich schaute mich um, erwiderte die Grüße mit würdigem Lächeln und winkte gnädig in die Menge wie eine königliche Hoheit, die sich dem Volke zeigt. Dann sah ich, daß Helen nicht viel Platz neben mir hatte, trat nach links, wo der Gitterrost sein sollte, und rutschte in den Kohlenkeller.
    Leider entschwand ich dabei dem Blick der Menge nicht völlig. Kopf und Schultern ragten noch aus dem Schacht, und meine kleine Einlage war bei den Zuschauern ein sensationeller Erfolg, mit dem nicht einmal die Parade wetteifern konnte. Ich sah auch ein paar besorgte Gesichter, aber die allgemeine Reaktion war schallendes Gelächter. Die kleinen Pfadfinder stürzten aus ihren Reihen, und auch bei dem Blasorchester, der Houlton Silver Band, verursachte ich das reine Chaos. Es war ein Glück, daß sie nicht schon spielten, denn sie waren vor Lachen ganz außer Atem. Zwei der Musiker zerrten mich schließlich aus dem Schacht. Helen stand mir in dieser Stunde der Prüfung kein bißchen bei: sie lehnte am Türpfosten und wischte sich die Lachtränen aus den Augen.
    Ich klopfte mir den Kohlenstaub von den Hosen und rang um Gelassenheit. Da sah ich Wesley Binks in einem wahren Freudentaumel. Er zeigte triumphierend auf mich und dann auf das Kellerloch. Er grinste mich hämisch an und verschwand in der Menge.
    Später fragte ich Helen, was sie über ihn wußte. Es war nicht viel: Sein Vater hatte sich aus dem Staub gemacht, als Wesley sechs Jahre alt

Weitere Kostenlose Bücher