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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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fest entschlossen?«
    Sie konnten sich mittlerweile besser verständigen, halb auf Englisch, halb auf Deutsch. Sally nickte.
    »Felsenfest. Ich muss einfach. Nicht nur wegen Harriet, sondern auch wegen Mr Goldberg. Ich bin in Gedanken alles genau durchgegangen. Wieso sollte man ihn plötzlich verhaften wollen? Er hat doch nicht im Untergrund gelebt, er ist Journalist und noch dazu ein sehr bekannter. Erst seit er mit seinen Recherchen über den Zaddik begonnen hat, ist plötzlich die Polizei hinter ihm her. Nein, Rebekka, ich muss das jetzt tun. Aber du musst mir alles erzählen, woran du dich noch erinnern kannst – jede Einzelheit – über ihn, seine Dienerschaft, seine Gewohnheiten … alles.«
    Dann kam Mrs Katz wieder zurück und brachte eine Schüssel mit warmem Wasser, ein Handtuch und verschiedene Sachen in einer braunen Papiertüte. Sie sagte etwas zu Leah, die für Sally dolmetschte: »Es dauert zwei Stunden. Man muss es in warmem Wasser anrühren, sagt meine Mutter. Dein Haar ist so blond, dass es vielleicht nicht richtig dunkel wird. Aber wir machen es so dunkel, wie wir können. Du musst dein Kleid aufknöpfen – und dir das Handtuch hier um den Hals legen, damit er keine Farbe abbekommt…«
    Harriet schaute neugierig zu, wie Sally sich über die Schüssel beugte und Mrs Katz mit der Prozedur begann.
     
    Und Rebekka erzählte ihr alles über den Zaddik und sein Gefolge. Das Dienstmädchen, das sie gekannt hatte, war eine junge Russin gewesen, die zum Personal des Hauses, aber nicht zum Personal des Zaddik gehört hatte. Wenn der Zaddik auf Reisen war, leistete er sich einen Hofstaat wie ein König. Er hatte einen Sekretär, einen Deutschen namens Winterhalter, einen französischen Koch, dessen Namen Rebekka nicht behalten hatte, einen Leibarzt, ebenfalls ein Deutscher, einen Kutscher und die Diener, die ihn im Rollstuhl umherfuhren. Der Wichtigste von allen aber war sein Leibdiener Michelet, ein eitler, launischer Mann von dicklicher Gestalt, der eine Vorliebe für Schokolade, Süßigkeiten und parfümierte Zigaretten hatte.
    Dem Leibdiener oblag es, den Zaddik zu waschen und anzukleiden und für die Befriedigung seiner sonstigen Bedürfnisse zu sorgen. Er war nach dem Zaddik der mächtigste Mann im Haus. Michelet war auch der Einzige, der Gewalt über den Affen besaß, alle anderen durfte das bösartige Tier beißen, ohne Strafe zu fürchten. Einmal hätte der Affe seine Zähne auch in Michelets Hand gegraben; der habe daraufhin aber nicht versucht den kleinen Satan abzuschütteln, sondern stattdessen seelenruhig an seiner Zigarette gezogen, um sie zum Glühen zu bringen und anschließend auf dem Kopf des Tieres auszudrücken. Der Affe sei mit einem Aufschrei des Entsetzens geflohen und habe seitdem eine schreckliche Angst vor dem Leibdiener.
    Was nun den Affen selbst betraf …
    »Er ist durch und durch böse«, sagte Rebekka, während sie Sally ein unangenehm riechendes Mittel in die Haare rieb. »Man sagt zwar, Tiere seien unschuldig, weil sie weder Gut noch Böse kennen, aber der Meinung bin ich nicht. Dieser Affe ist nicht unschuldig. Wenn ich alles glauben würde, was man sich über Dibbuks und Golems erzählt, würde ich sagen, dass er ein böser Geist und kein wirkliches Tier aus Fleisch und Blut ist. Wenn der Zaddik einen Dienstboten bestrafen will, befiehlt er dem Affen, ihn zu beißen, und der tut es. Keiner wagt es, sich dagegen zu wehren – abgesehen von Michelet. Aber noch etwas weiß ich von meiner Freundin Olga: Der Affe wird allmählich alt. Der Zaddik soll versucht haben, jüngere Affen zu dressieren, doch ohne Erfolg. Eines nicht mehr fernen Tages wird er zu alt sein, um seinen Herrn zu bedienen, und sterben. Was der Zaddik dann macht, weiß Gott … So. Jetzt spülen wir noch einmal. Beug den Kopf über die Schüssel …«
    Sally ließ die ganze Prozedur geduldig über sich ergehen. Mrs Katz und Rebekka rieben ihr mehrmals die Paste ins Haar, spülten, wickelten ihren Haarschopf in Tücher und spülten erneut. Zwischendurch kam Mr Katz einmal kurz herein, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und ging gleich wieder. Später kam er aber wieder zurück, um mit Harriet zu spielen.
    Die Zeit verging. Zum Abendessen gab es Borschtsch und Schwarzbrot, und dann ging Sally, das Handtuch turbanartig um den Kopf gewickelt, mit Harriet nach oben und legte sie in ein Kinderbett in Rebekkas Zimmer. Mr Katz hatte schon oft Flüchtlinge aufgenommen; sein Geschäft ging gut, und so war

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