Der Tiger im Brunnen
Koch stieß Verwünschungen aus, konnte aber wegen der Eier, die er in beiden Händen hielt, nichts weiter tun.
Das war Sallys Gelegenheit. Sie sah einen Lappen in der Nähe, nahm ihn und eilte zum Herd, um das Malheur zu beseitigen. Die Frau wandte sich an den Koch und beschimpfte ihn nun ihrerseits. Das Hausmädchen trug die Teller in die Spülküche, der Lakai lief weiter und damit war der kritische Augenblick vorüber.
Die rundliche Frau nahm Sally den Topf wieder ab und sagte: »Danke dir. Ich kümmere mich darum. Warum sich der Mann immer gleich so aufregen muss – ich verstehe ihn doch nicht. Hat dich die Agentur hergeschickt?«
Sally blieb nur eine Sekunde, um zu überlegen. »Ja«, sagte sie.
»Dann stell deinen Korb vorläufig hier ab. Wir suchen später eine Tracht für dich heraus. Schau jetzt, ob du Missjöö zur Hand gehen kannst. Ich weiß nicht, was er will.«
»Wenn es Ihnen recht ist, Madame, ich kann ein bisschen Französisch. Meine letzten Herrschaften hatten einen französischen Koch – «
Aus irgendeinem Grund bekam ihre Stimme einen leichten nördlichen Akzent. Sie blieb dabei und war froh, dass sich alles so gut fügte.
»Dem Himmel sei Dank, ich verstehe diesen Franzosen nicht … ein dummer Mensch.«
Sally legte Mantel und Hut beiseite und eilte dem Koch zu Hilfe. Binnen fünf Minuten hatte sie sich unentbehrlich gemacht. Sie gab die Anordnungen des Kochs flink an die rundliche Frau (das war, wie sie erfuhr, die Haushälterin Mrs Wilson) und an das Hausmädchen weiter. Zu dieser Stunde ging es besonders hektisch zu; offenbar waren wichtige Gäste zu Besuch, die bereits mit dem Abendessen begonnen hatten. Der Koch, Monsieur Ponsot, gefiel sich darin, mit großem Aufwand Soßen und Feingebäck herzustellen, was Mrs Wilson zur Weißglut brachte. Sally wechselte mit ihr komplizenhafte Blicke. Was für ein Glück es doch war, gerade in diesem Augenblick gekommen zu sein. Würde sie diese Gunst nutzen können? Und was war das für eine Agentur?
Während sie dolmetschte, mit dem Schneebesen schlug, in Töpfen rührte und Kaffee mahlte, bekam sie nach und nach heraus, für wen die anderen sie hielten.
»Wann haben Sie denn in der Agentur angerufen, Mrs Wilson?«, fragte sie in einer kurzen Pause.
»Erst heute Morgen. Wir mussten das andere Mädchen entlassen. Sie trank.«
»Nein, wirklich?«
»Deswegen war ich so überrascht, dich schon heute Abend zu sehen. Wir haben vor morgen niemanden erwartet.«
Das war eine Erleichterung. Für die nächsten Stunden würde kein anderer Bewerber auftauchen.
»Tja«, sagte Sally. »Da war ich wohl zur rechten Zeit am rechten Ort.«
»Wo kommst du denn her?«
Sally erinnerte sich an den nördlichen Akzent in ihrer Stimme. Wieder musste sie sich blitzschnell entscheiden.
»Aus Bradford in Yorkshire. Aber ich war bei einer Dame und einem Herrn in Stellung, die viel auf Reisen waren, und so bin ich auch viel herumgekommen.«
»Bei einer Dame? Als Kammerzofe? Wir haben ein ganz normales Hausmädchen gesucht.«
»Ich war zwar als Zofe bei einer Dame in Stellung, aber allgemeine Haushaltsarbeit ist mir viel lieber.«
»Das höre ich gern. In diesem Haus gibt es nämlich keine Dame.«
»Oh?« Sally meinte, es wäre nicht schlecht, sich ein wenig neugierig zu zeigen. »Wer ist denn der Herr des Hauses?«
»Ein Gentleman namens Mr Lee. Steinreich. An den Rollstuhl gefesselt. Kann sich nicht mehr rühren.«
»Wie schrecklich …«
»Hier im Haus gibt es zwei Arten von Dienstpersonal, wie du rasch merken wirst. Auf der einen Seite das Hauspersonal, das sind wir. Unser Vorgesetzter ist Mr Clegg, der Butler. Und auf der anderen Seite Mr Lees persönliche Diener, allen voran sein Leibdiener, Mr Michelet. Er begleitet seinen Herrn überallhin.«
Sie sagte das zwar sehr sachlich, aber dennoch war ihre Abneigung gegen den Leibdiener deutlich spürbar. In Sallys Ohren klang der Name wie ein Synonym für Ärger und Zwietracht.
Sally hätte gern noch ein wenig weitergebohrt, als plötzlich die Tür aufging und ein streng blickender Herr eintrat. Seine Miene spiegelte einen Widerwillen, der ihm förmlich angeboren schien. Aus seiner Kleidung schloss Sally, dass es sich um den Butler handelte, und wenn sie mit ihrer Deutung richtig lag, war er über den Einfluss anderer Hausangestellter wie Mrs Wilson ziemlich ungehalten.
»So, du bist also das neue Hausmädchen. Name?«
»Louisa Kemp, Mr Clegg.«
»Referenzen?«
Sally war auf diese Frage vorbereitet.
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