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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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vertraute Treppe hinauf. Dann betrat sie das Büro. Dort zündete sie eine Kerze aus dem Vorrat in der Registratur an und schrieb in aller Eile eine Notiz für Margaret. Ob sie Mr Wentworth mitteilen könne, dass sie ihn wegen einer dringenden Angelegenheit sprechen wolle, wenn möglich gleich am nächsten Morgen? Sie würde auf ihn warten – aber wo? Ins Büro konnte sie bei Tag nicht kommen, vermutlich wurde es noch überwacht – … in … in der St.-Dionis-Kirche in der Fenchurch Street, hier gleich um die Ecke.
    Für das Treffen mit ihm setzte sie ihre Sicherheit aufs Spiel; als Anwalt würde er darauf bestehen müssen, dass sie sich der Polizei stellte. Doch um dieses Problem wollte sie sich später kümmern. Jetzt ging es zuallererst einmal darum, einen Anwalt für Goldberg zu finden.
    Sally ließ die Notiz auf Margarets Schreibtisch liegen und sah sich um. Ihr Blick fiel auf den großen Stadtplan von London an der Wand hinter Margarets Schreibtisch. Sie brauchte eine Weile, bis sie darauf den Fournier Square gefunden hatte. Er war nur ein paar Straßen von dort entfernt, wo sie noch vor kurzem gesessen hatte, in Mr Katz’ Haus. Im Straßenverzeichnis auf dem Regal fand sie die Bestätigung, dass am Fournier Square 12 ein gewisser H. Lee wohnte.
    Aber was hatte sie nun davon? Besser informiert zu sein, lautete die Antwort. Und den Kern eines Gedankens, der sie erzittern ließ. Sie blies die Kerze aus und hing im Dunkeln diesem Gedanken nach. Je mehr sie nachdachte, desto größer wurde ihre Angst und eine schwere Last legte sich ihr auf die Brust.
    Nach einer Weile verließ Sally leise das Büro und kehrte zur Sozialmission zurück. Als sie dort ankam, schlug es von dem nahen Kirchturm zwei Uhr. Harriet sträubte sich, aus dem warmen Bett gehoben und auf die Toilette gebracht zu werden; sie murrte und verzog das Gesicht, wie sie es immer tat. Das sah so niedlich aus, dass Sally sich schließlich nicht aus Angst um Goldberg oder aus Furcht vor dem mysteriösen H. Lee in den Schlaf weinte, sondern aus überwältigender Liebe zu ihrem Kind. Angst und Furcht befielen sie erst später, in ihren Träumen.
     
    Die St.-Dionis-Kirche gehörte zu Christopher Wrens Meisterwerken: hoch aufragend, dunkel, Respekt einflößend – und leer um neun Uhr am nächsten Morgen. Sally hatte Harriet mitgenommen, und so saßen sie nun beide in einer der hinteren Bänke und entzifferten die Inschriften auf den Grabplatten.
    Keine fünf Minuten nachdem sie die Kirche betreten hatten, ging die Tür auf und eine kleine Gestalt in einem schäbigen Mantel kam herein, nahm den Hut ab und bewegte sich hinkend auf ihre Bank zu.
    »Miss Lockhart – ich bin Wentworth. Ist das Harriet? Guten Morgen, Harriet. Ungewöhnlich viele Polizisten heute Morgen auf der Straße, Miss Lockhart. Haben Sie es auch bemerkt? Hm. Haben Sie sich nun entschieden, was Sie machen wollen?«
    »Es geht nicht um mich, Mr Wentworth. Mein Fall kann vorläufig warten. Es geht um jemand anderen.«
    Er nickte aufmerksam wie ein Vogel mit hellen, wachen Augen. Harriet war von ihm fasziniert. Er hatte groteske, gnomenhafte Gesichtszüge, einen breiten Mund und buschige rötliche Augenbrauen, das Haupthaar stand drahtig in die Höhe. Doch sein Gesichtsausdruck war so lebhaft und beseelt, dass er insgesamt nicht hässlich wirkte. Er saß in der Bank vor ihnen und ließ einen Arm über die Rückenlehne hängen.
    »Sprechen Sie weiter«, ermunterte er sie.
    »Wenn jemand in einem anderen Land eines Verbrechens angeklagt ist – als Bürger dieses anderen Landes – und hier Asyl sucht, kann man ihn dann wieder dorthin zurückschicken?«
    »Um welches Land geht es denn?«
    »Österreich-Ungarn.«
    »Ja. Zwischen Großbritannien und Österreich-Ungarn besteht ein Auslieferungsabkommen.«
    »Aber wenn er nun unschuldig ist? Wenn das Vergehen, auf das sich die Anklage stützt, nur ein Vorwand ist und der Betreffende in Wirklichkeit aus politischen Gründen verfolgt wird?«
    »Die hiesigen Gerichte können nicht über die Stichhaltigkeit der Anklage befinden, das müsste ein dortiges Gericht entscheiden. Wenn allerdings klar wäre, dass es sich bei dem Vergehen um eine politische Tat handelt, dann wäre eine Auslieferung nicht zulässig.«
    »Sie meinen …«
    »Die betreffende Bestimmung könnte nicht zur Anwendung kommen. Eine Auslieferung dürfte in einem solchen Fall nicht stattfinden.«
    Sally verspürte ein großes Gefühl der Erleichterung. Sie ließ sich in die

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