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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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schaute ihre Mutter an.
    Sally kniete sich hin und legte ihren Kopf neben Harriets auf das Kissen. Dann flüsterte sie: »Als Mama noch ein kleines Mädchen war, so wie Harriet, nahm ihr Vater sie mit in die Wälder oder in die Berge. Wir wohnten dann in einem kleinen Zelt, kochten über dem offenen Feuer unser Essen und tranken Wasser aus Flüssen. Wir mussten beide sehr tapfer sein wegen der Tiger und Schlangen und wilden Affen, die dort draußen lauerten. Doch auch wenn Mama ihren Papa nicht sehen konnte, wusste sie doch, dass er in der Nähe war, und so hatte sie keine Angst. Nun, Hattie, bist du mit dem Tapfersein an der Reihe. Denn Mama muss für eine Weile an einen anderen Ort gehen. Aber wir bringen dich zu einer Freundin, die sich um dich kümmert. Du wirst Mama zwar nicht sehen, aber du weißt, dass sie in der Nähe ist. Und danach gehen wir nach Hause …«
    Harriet war schon eingeschlafen. Sallys Stimme brach. Zärtlich strich sie Harriet das Haar aus dem Gesicht, betrachtete ihr Kind eine Weile und staunte darüber, wie deutlich Harriets unverwechselbares Wesen selbst im Schlaf noch zum Ausdruck kam. Wie gern hätte sie an dem Kind etwas entdeckt, das sie an ihren geliebten Papa erinnert hätte. Das war freilich nicht möglich, aus dem einfachen Grund, weil Hauptmann Lockhart gar nicht Sallys leiblicher Vater gewesen war. Doch das hatte sie erst nach seinem Tod erfahren.
    Alles, was Harriet einmal von ihm bleiben würde, wären die Erinnerungen, die Sally ihr mitgegeben hatte. Und eines Tages die Firma, die Sally mit seinem Geld gegründet hatte.
    Eines Tages … Wann? Vielleicht schon bald.
    Sally stand leise auf, schrieb eine Notiz für Angela Turner und eine weitere für Miss Robbins und ging dann ins Badezimmer.
     
    »Aber Sally – was hast du bloß gemacht? Dein schönes Haar …«
    »Ich will mein Aussehen ändern. Kurz schneiden allein reicht aber nicht, ich muss auch die Haarfarbe wechseln. Könntest du mir dabei helfen?«
    Rebekka wandte sich an Mrs Katz und deren Tochter Leah. Das junge Mädchen trug Harriet nach dem Mittagsschlaf auf dem Arm. Sie besprachen sich rasch. Sally hörte das Wort »Henna«. Mrs Katz nickte und ging hinaus.
    Rebekka sagte: »Mrs Katz meint, wir könnten deine Haare mit Henna färben. Rot oder rotbraun. – Aber warum, Sally? Was hast du vor?«
    Da Sally sah, dass Harriet mit einem kleinen Spielzeughund beschäftigt war, erklärte sie ihr alles.
    »Es hat mit dem zu tun, was du mir gestern erzählt hast, Rebekka. Es hat mich auf eine Idee gebracht, aber dazu muss ich mich verkleiden. Und ich brauche einen Ort, an dem ich Harriet in Sicherheit weiß. In der Sozialmission kann ich sie nicht lassen – dort haben sie zu viel zu tun und es ist niemand da, der ständig auf sie achtgeben könnte. Aber ich dachte, dass du vielleicht … Und Mrs Katz und Leah kümmern sich so rührend um Harriet … Ich traue mich fast nicht, sie zu fragen. Aber anders geht es nicht.«
    Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie um etwas bat, ohne dafür bezahlen zu können. Sie fühlte sich nackt und bloß, und das nicht nur wegen ihres geschorenen Kopfes.
    Rebekka schaute Leah an. Das Mädchen, munter und lebhaft wie ein kleiner Vogel, war sogleich einverstanden.
    »Natürlich«, sagte Leah. »Natürlich können wir das. Aber was hast du vor?«
    Sally wurde schwindelig. Jedes Mal wenn sie daran dachte, wurde es schlimmer, aber nun, da sie damit angefangen hatte, gab es für sie kein Zurück mehr.
    »Ich habe vor, mich in das Haus des Zaddik einzuschleichen. Ich will ihn mit eigenen Augen sehen. Wenn ich irgendetwas tun kann, um ihn aus der Bahn zu werfen, versuche ich es. Aber dazu muss ich mein Erscheinungsbild ändern. Sie wissen, wie ich aussehe – auch Parrish weiß es – und werden daher keine dunkelhaarige Frau erwarten. Sie werden überhaupt niemanden erwarten … Ja, das ist mein Plan.«
    Sie schauten sie wortlos an. Zuerst dachte Sally, sie hätten sie vielleicht nicht verstanden. Doch Leahs Englisch war gut und außerdem hatte sie beim Erzählen gleich mitübersetzt. Nein, sie hatten sie sehr wohl verstanden.
    »Aber wie denn?«, fragte Leah.
    »Ich weiß es noch nicht. Ich werde schon einen Weg finden. Aber dazu brauche ich Zeit und deswegen …«
    Sie sah zu Harriet hinüber, die ganz versunken mit dem kleinen hölzernen Hund spielte. Rebekka bückte sich, hob Harriet hoch und setzte sie sich auf den Schoß.
    »Wir kümmern uns um sie«, sagte sie. »Aber bist du wirklich

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