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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Stelle errichtet hatte. Fünfzehn Menschen ertranken, drei weitere blieben in den stinkenden Schlammmassen verschollen.
    Bald darauf wurde der Blackbourne erneut überbaut und geriet in Vergessenheit.
    Doch er floss immer noch. Die vergessenen Abwasserkanäle führten ihm nach wie vor ihren Unrat zu. Und die vielen grausigen Hinterlassenschaften hatten ihn nicht gerade ansehnlicher gemacht. Was kam da nicht alles in ihm zusammen: Durch ein leckes Abflussrohr unter einem Schlachthaus in Steppney sickerten große Mengen Blut in einen alten unterirdischen Abwasserkanal, der sich in den Blackbourne ergoss. Eine Farbenfabrik in Shoreditch führte alle chemischen Abwässer in einen Tümpel hinter dem Hof, von dem sie über mehrere Kanäle in den Fluss gelangten. Die Ziegelmauer, die 1665 in großer Eile errichtet worden war, um ein Massengrab von Pestopfern gegen das übrige Gelände abzuschirmen, war zusammengefallen, und der Blackbourne sog nun langsam die Essenzen von mehreren Dutzend Pestleichen in sich ein. Alles in allem war es ein starkes Gebräu, das sich träge dahinschlängelte und besonders bei trockenem Wetter einen Übelkeit erregenden Gestank in die Keller von Hunderten von Häusern brachte.
    Wenn der Blackbourne nach einem Sturm wieder einmal angeschwollen war, spülte er den alten Mörtel und das Zement aus den Fundamenten. In manchen Kellern konnte man ihn sogar rauschen hören.
    »Was ist denn das für ein Geräusch, Charlie?«, sagte ein Maler zu seinem Kumpel, als sie gerade dabei waren, ihr Werkzeug aufzuräumen.
    Charlie lauschte. »Rumpelt irgendwie«, sagte er bloß. »Das muss wohl die Hydraulik sein.« Er wies mit dem Daumen auf die neuen Rohrleitungen der London Hydraulic Company, durch die unter hohem Druck Wasser in den Keller geführt wurde. Es diente zum Betrieb des Aufzugs, der sich dort befand. »Ich trau dem Zeug da nicht.«
    »Das kann’s nicht sein«, sagte der erste Mann. »Es kommt von unten. Hör doch mal.«
    Er kniete sich mühsam hin und legte sein Ohr auf den Boden.
    Im selben Augenblick öffnete sich rasselnd die Tür des Aufzugs und Herr Winterhalter, der deutsche Sekretär des Zaddik, stieg aus. Er schaute auf den knienden Handwerker.
    »Sind Sie mit der Arbeit fertig?«, fragte er streng.
    »O ja – ’tschuldigung, Chef. Dachte, was gehört zu haben.«
    Der Arbeiter stand auf, als der Sekretär ihm und seinem Kollegen ein paar Münzen reichte.
    »Das war, glaube ich, der ausgemachte Lohn«, sagte er. »Sie scheinen die Arbeit wie gewünscht ausgeführt zu haben. Wann wird die Farbe trocken sein?«
    »Am besten wartet man anderthalb Tage«, sagte Charlie. »Wenig Luftzug hier unten. Die Türen sollten alle offen bleiben.«
    Sie packten ihr Werkzeug zusammen und stiegen dann die enge Treppe hinauf. Den Handwerkern war es selbstverständlich nicht erlaubt, den Aufzug zu benutzen. Das Gleiche galt für die Haustür, daher verließen sie das Haus durch den Dienstboteneingang.
    Sally beobachtete die beiden aus der Deckung hinter einem Droschkenstand. Im Haus herrschte geschäftiges Treiben: Alle Fenster waren erleuchtet, Diener trugen Geschirr von einem Raum in den anderen oder zogen Vorhänge zu. Sally würde bald etwas unternehmen müssen.
    In den weiten Mantel gehüllt und den Korb am Arm, lief sie durch den strömenden Regen hinüber zum Dienstboteneingang. Hatte sie ihre Geschichte parat? Dann los.
    Das Küchenfenster erleuchtete den Platz vor der Treppe, doch Regen und Dampf hatten die Scheibe von außen und innen beschlagen. Keiner sah hindurch, als sie an die Tür klopfte.
    Ehe sie irgendjemand abwimmeln konnte, öffnete sie die Tür und trat ein. Sie wischte sich den Regen aus dem Gesicht und schaute sich um.
    »Hier – «
    Eine rundliche Frau hob die Augen vom Kochtopf, den sie auf dem Herd hatte. Ein Hausmädchen, das ein Tablett mit schmutzigen Tellern hereintrug, blieb stehen und ein Lakai blickte von der Tür herüber; er war gerade dabei, eine große, gefüllte, silberne Schale hinauszutragen.
    »Remuez, remuez!«, kommandierte eine schrille Stimme. Sie gehörte einem Mann mit dunklem Teint und weißer Kochmütze, der Eier über einer Schüssel aufschlug und dabei den Topf der rundlichen Frau im Blick hatte. Sie schaute ihn verständnislos an. »Rühren, rühren!«
    Sie drehte sich wieder um, doch es war schon zu spät. Die Soße kochte über und zischte auf der heißen Herdplatte. Der Geruch von Verbranntem stieg Sally in die Nasenlöcher.
    Der französische

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