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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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unter seinem Dach immer ein Platz für Menschen, die Hilfe brauchten. Im Übrigen mochte er Kinder.
    Sie ließen Sally allein, damit sie sich von Harriet verabschieden konnte. Das Kind war schläfrig und wunderte sich nicht mehr über den Turban auf dem Kopf ihrer Mutter.
    »Gute Nacht, meine Kleine«, flüsterte Sally. »Erinnerst du dich, was Mama vom Tapfersein gesagt hat?«
    »Tiger«, sagte Harriet.
    »Genau. Auch wenn du Mama nicht sehen kannst, sie ist trotzdem in deiner Nähe. So, und nun mach die Augen zu und schlaf. Sei ein gutes, tapferes Mädchen …«
    Sie küsste sie auf Stirn und Wangen und drückte sie innig. Tränen fielen auf das Kissen neben Harriets Kopf, doch die Kleine bemerkte es nicht.
    Sally ging wieder nach unten und nahm den Turban ab: Zum Vorschein kam ein kurz geschorener Kopf mit dunkelrotem Haar. Sie hatte Mühe, sich in dem kleinen Handspiegel, den Mrs Katz ihr vorhielt, wiederzuerkennen.
    »Danke«, sagte sie. »Das ist genau das, was ich wollte.«
    »Die Augenbrauen!«, rief Rebekka. »Die Augenbrauen sollten dunkler sein. Deine Augen sind schon dunkel, aber die Augenbrauen müssen dazu passen.«
    Leah holte einen Stift. Sally feuchtete ihn mit der Zunge an und zog sich die Augenbrauen nach. Nun sah sie wirklich wie verwandelt aus. Was sie jetzt noch brauchte, war ein anderer Name.
    »Louisa Kemp«, sagte sie, »das ist mein neuer Name und ich bin … ein Dienstmädchen. Danke für alles!«
    »Sally, vergiss eines nicht«, beschwor Rebekka sie. »Er ist gefährlich, er lässt Menschen umbringen.«
    »Wie lange sollen wir warten, bis wir dich da wieder herausholen?«, fragte Leah.
    »Ich werde euch benachrichtigen, wie, weiß ich im Moment noch nicht.«
    »Und Mr Goldberg?«
    Sally zögerte, dann zuckte sie die Schultern. »Wenn er vorbeikommt … ich weiß nicht. Sagt ihm, ich hätte einen Anwalt für ihn gefunden … Gebt auf Harriet acht.«
    »Sie ist hier sicher«, flüsterte Rebekka.
    Sie küssten sich. Sally warf sich den Mantel um die Schultern, nahm ihren Hut und ging.

 
     
     
Buch drei

 
Der Leibdiener
     
     
    Es hatte heftig zu regnen begonnen.
    Der Himmel öffnete seine Schleusen über ganz Südengland. Über London hingen schwere Regenwolken, die ihre Wasserfracht in Rinnsteine, Kanäle und das Erdreich ergossen, während sie sich auf den Höhen von Crouch Hill, Streatham Hill, Hampstead und Highgate in dichten Nebel verwandelten.
    Londons neues Kanalisationssystem war so angelegt, dass es auch ungewöhnlich große Niederschlagsmengen aufnehmen konnte. Wenn die Wassermassen für den Hauptauffangkanal zu groß wurden, flossen sie über Wehre in Entlastungskanäle und von dort weiter in die Themse. Diese Wehre lagen entlang den alten Bächen, die unterirdisch ganz London durchzogen: der Fleet, der Stamford Brook, der Walbrook, der Tyburn und wie sie alle hießen. Die meisten waren bekannt und kartografisch erfasst, obwohl nur die wenigsten, die sich zu Fuß oder in der Droschke über ihnen bewegten, von ihrer Existenz wussten.
    Doch in den älteren Stadtteilen gab es Dutzende von Quellen und Wasserläufen, die vollkommen in Vergessenheit geraten waren, die meisten zwar nur kleine Rinnsale, manche indessen führten beträchtliche Wassermengen, vor allem nach anhaltenden Regenfällen, wenn das Wasser Zeit hatte, in den Boden einzusickern. Abgesehen von den alten Quellen und Bächen gab es noch Hunderte – vielleicht sogar Tausende – alter Abwasserkanäle. Viele waren verstopft oder halb verschüttet, andere führten noch Wasser, aber alle standen vor Schmutz und Schlamm und waren Tummelplatz für Frösche, Ratten und Aale.
    Einer dieser vergessenen Wasserläufe war der Blackbourne. Er entsprang tief im Erdreich unter einem Platz in Hackney, wo einst ein Kloster, zu Sallys Zeit nun eine Konservenfabrik stand. Von dort floss er in vielen Schleifen südwärts und mündete schließlich in der Nähe des Towers in die Themse. Schon im dreizehnten Jahrhundert war der Blackbourne nur noch ein offener Abwasserkanal, in dem nicht nur Küchenabfälle, tote Hunde und Katzen trieben, sondern auch die Abfallprodukte der Papiermühlen, Gerbereien und Seifensiedereien, die sich in seinem Umkreis angesiedelt hatten. Schon damals wurde das Wasser des Blackbourne zu einem Synonym für Schmutz und Gestank.
    Im siebzehnten Jahrhundert war der Fluss überbaut worden, doch er führte immer noch Wasser. Im Jahr 1646 stürzten nach schweren Regenfällen drei Häuser ein, die man an dieser

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