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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Kirchenbank zurücksinken und merkte erst jetzt, wie angespannt sie gewesen war. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass der Rechtsanwalt sie ruhig betrachtete.
    »Überlegen Sie es sich genau, ehe Sie mir Näheres erzählen«, mahnte er sie. »Denken Sie daran, dass ich mich ebenfalls an die Gesetze zu halten habe.«
    Nun betrachtete Sally ihn genauer. Seine Ärmel waren abgewetzt, sein Kragen schmutzig, aber sein Blick war fest und klar, und sie spürte in sich eine Art von Vertrauen aufsteigen, das sie nur in Gegenwart von Menschen hatte, die wussten, was sie taten.
    Sie atmete tief durch und erzählte ihm alles, was sie über Goldberg wusste. Mr Wentworth sprach nur, wenn er weitere Erläuterungen benötigte, machte sich aber Notizen, die er mit Bleistift in ein abgegriffenes Büchlein schrieb.
    Als sie fertig war, klappte er das Buch zu. Dann schaute er sie ernst an.
    »Und die andere Sache – Ihr eigener Fall? Sind Sie sicher, dass Sie nichts unternehmen wollen?«
    »Ich – ich muss erst noch ein, zwei Dinge herausfinden. Ich glaube jetzt zu wissen, wer hinter allem steckt. Wenn ich aber jetzt etwas gegen ihn unternähme, wäre er gewarnt und würde andere Mittel und Wege finden, mich zu attackieren.«
    Er schaute sie skeptisch an. Sally fuhr fort: »Der Mann betrügt Einwanderer und beutet sie aus. Und … und außerdem geht es auch noch um Menschenhandel, bei dem junge Frauen in Bordelle verkauft werden. Das habe ich von Mr Goldberg erfahren, der als Journalist an der Aufdeckung dieser Sache arbeitet.«
    »Hm«, sagte Wentworth. »Ich wiederhole nur, was ich bereits zu Miss Haddow gesagt habe: Ich kann Ihnen nicht helfen, solange Sie sich versteckt halten. Eigentlich müsste ich Sie jetzt der Polizei übergeben. Gegen Sie liegt ein Haftbefehl wegen Kindesentführung vor, und wenn ich Sie nicht melde, mache ich mich mitschuldig. Ich werde es nicht tun, aber eigentlich bin ich dazu verpflichtet. Nun, Sie wissen ja, wo Sie mich finden. Hier ist meine Karte, falls sie mich privat erreichen wollen. Ich schaue jetzt in meinen Büchern nach, um mich über die Gesetzeslage in Sachen Auslieferung kundig zu machen. Sobald sich etwas Neues ergibt – wenn Mr Goldberg verhaftet werden sollte –, nehmen Sie bitte Verbindung mit mir auf. Wir werden dann ein Habeas Corpus beantragen.«
    »Ein was?«
    »Eine gerichtliche Anordnung, mit der die verhaftende Instanz aufgefordert wird, den Gefangenen in Person vorzuführen und die Gründe für dessen Verhaftung darzulegen. Wenn das Gericht zu dem Schluss kommt, dass die Gründe nicht ausreichen, kommt Goldberg frei. In diesem Fall würde der ganze Prozess aufgeschoben und wir hätten Zeit, ein politisches Motiv nachzuweisen.«
    Wentworth stand auf und gab Harriet feierlich die Hand.
    »Und wie ich vorhin schon sagte, heute Morgen sind ungewöhnlich viele Polizisten auf der Straße. Das wäre so weit alles.«
    Er gab Sally ebenfalls die Hand, machte vor beiden eine kurze Verbeugung und hinkte so rasch davon, wie er gekommen war. Sally stellte mit Erstaunen fest, dass er kein Wort darüber verloren hatte, wie schwierig alles sei, wie ungünstig sich der Fall darstelle und welche Probleme sie ihm bereite. Einen größeren Unterschied zu dem hilflosen Mr Adcock konnte man sich kaum vorstellen.
    Seine Warnung im Ohr, verließ Sally die Kirche durch einen Seiteneingang und spähte nach links und rechts, ehe sie mit Harriet an der Hand in die Lime Street einbog und den Weg zurück nach Spitalfields nahm.
    In der Sozialmission wartete Arbeit auf sie. Jemand hatte ein großes Bündel Altkleider vorbeigebracht und Angela Turner suchte jemanden, der das Brauchbare vom Unbrauchbaren trennte. Sally brachte den gesamten Vormittag damit zu, während Harriet, ihr zu Füßen, sich in ihre Spiele vertiefte. Beim Sortieren dachte Sally die ganze Zeit an Mr Wentworth, die Auslieferungsbestimmungen und den Habeas-Corpus-Antrag; und darüber hinaus noch an etwas anderes.
    Nach dem Mittagessen, das nur aus Brot und Käse bestand, machte Sally den Abwasch für die Frauen und Kinder, die mit ihnen im Haus wohnten, dann brachte sie Harriet für den Mittagsschlaf hinauf in ihr Zimmer. Als die Kleine im Bett lag, setzte sie sich zu ihr und strich ihr übers Haar.
    »Harriet?«
    »Mmm.«
    »Du bist ein gutes Mädchen. Kannst du auch ein tapferes Mädchen sein?«
    Harriet, den rechten Daumen im Mund und mit der linken Hand sanft am Ohr zupfend, hatte ihre übliche Schlafposition eingenommen. Sie

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