Der Tiger im Brunnen
folgte wildes Hämmern an der Tür zum Dachboden. »Raus hier! Aber schnell. Haut ab, ihr Zigeuner, oder ich lasse den Hund auf euch los!«
Ein Furcht einflößendes Knurren begleitete die bellende Stimme. Murrend packten die Jungen die halb garen Bücklinge ein, halfen Bridie auf die Beine, nahmen Harriet auf den Arm und öffneten die Luke.
»Schon gut, Mister«, rief Liam hinunter. »Wir gehen ja schon. Halten Sie den Hund zurück.«
»Dann beeilt euch!«, zischte der Besitzer.
Sie kletterten nacheinander die Treppe hinunter und gingen durch den Stall hinaus in die graue Morgendämmerung. Bridie war noch etwas wacklig auf den Beinen, Liam kaute an einem Bückling.
Der Stallbesitzer beobachtete ihren Abgang aus den Augenschlitzen. War da nicht ein kleines Kind, das sie mit sich herumschleppten? Ja, wirklich.
»He – «, rief er und wollte ihnen nachlaufen, doch sie hörten ihn, sahen den Hund und flohen.
Verdammtes Gesindel, dachte er. Denn schließlich hatte er doch ein Gewissen. Und das hier sah ganz nach einer Kindesentführung aus. Diesen Morgen würde irgendwo eine arme Mutter aufwachen und ihr kleines Kind vermissen. Das durfte nicht sein. Er sperrte das Tor ab und machte sich mit dem Hund auf den Weg zur Polizei.
Als Con und Tony, nachdem sie ein halbes Dutzend Verstecke erfolglos abgesucht hatten, ein paar Minuten später dort ankamen, trafen sie niemanden mehr an. »Mann, ich bin völlig fertig«, stöhnte Tony, als sie die Leiter hochstiegen. »Wär doch nicht schlimm, wenn wir uns ’ne halbe Stunde aufs Ohr legen, oder? Das Kindchen finden wir schon noch früh genug.«
»Wir haben’s dem Mann versprochen«, entgegnete Con. »Wir müssen ihn so bald wie möglich anrufen.«
»Sobald wir sie gefunden haben«, sagte Tony. »Bestimmt ist sie in Sicherheit. Aber jetzt penn ich erst mal ’ne Runde.«
»Mensch – schau mal! Die sind hier gewesen. Da brennt noch ein Feuer – « Da knurrte von unten ein Hund. Die beiden Jungen schauten sich an.
»Da oben sind noch welche von dem Pack«, sagte eine Männerstimme.
»Na, dann kommt mal runter«, ließ sich eine andere, eine offiziell klingende Stimme, eine Polizistenstimme vernehmen. »Sonst komme ich rauf und hole euch und das wird euch nicht gefallen. In meinem Revier werden keine Kinder gestohlen. Ich habe euch, ihr sitzt in der Falle.«
Tagelang hatte Sarah-Jane Russell nun schon vor den Toren von Orchard House Posten gestanden. Dieser widerliche Parrish hatte sie ausbezahlt und ihr empfohlen, sich eine andere Stellung zu suchen, es gäbe bereits ein Kindermädchen im Haus. Ebenso war er mit Ellie und Mrs Perkins verfahren.
Und niemand wusste, wo sich Miss Lockhart aufhielt. Niemand konnte sagen, ob Harriet in Sicherheit war. Niemand konnte helfen. Sarah-Jane wusste weder ein noch aus. Ellie wohnte jetzt in der Stadt, Mrs Perkins war zu ihrer Cousine nach Reading gezogen und Sarah-Jane war bei ihrer verheirateten Schwester untergekommen, obgleich dort eigentlich kein Platz war …
Dem Gesetz nach war es nicht verboten, draußen vor dem Tor zu stehen. So beobachtete Sarah-Jane, wie man die guten Familienstücke wegschaffen ließ und Wagenladungen neuer Möbel herbeibrachte, wie neue Dienstboten im Haus erschienen, wie Gardinen und Vorhänge abgenommen und Schlösser ersetzt wurden, wie das Fachwerk in einem schmutzigen Rot neu gestrichen wurde. Tagelang stand sie dort, beobachtete, machte sich Notizen, weinte.
Schließlich wurde Parrish auf sie aufmerksam und rief bei der Polizei an, man solle einen Beamten vorbeischicken, der dafür sorge, dass sie verschwinde. Sarah-Jane kannte den Polizisten, es war der Cousin von Ellies Schwägerin. Beiden war die Situation peinlich. Sarah-Jane ging zwar fort, kehrte aber später zurück und versteckte sich hinter Sträuchern.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Doch irgendjemand musste hierbleiben, musste Wache stehen. Vage stellte sie sich vor, so lange zu warten, bis man Harriet hierherbrachte (sie zweifelte nicht daran, dass ihnen das am Ende gelänge, sie konnten offenbar tun, was sie wollten), und dann das Mädchen zu kidnappen, es an sich zu reißen und fortzulaufen. Doch sie wusste, dass sie das wohl nicht fertigbrächte. Dazu fehlte ihr der Mut. So etwas gab es nur in Jims Abenteuergeschichten. Ach, wären er und Webster doch nie weggegangen …
Als Sarah-Jane an diesem Morgen ihren Posten vor dem Haus erreichte, sah sie sogleich, dass sich etwas verändert hatte. Aus dem Schornstein
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