Der Tiger im Brunnen
er keine Luft mehr bekam. Sie hielt inne, bettete seinen Kopf in ihren Schoß und hielt ihn zärtlich wie eine Mutter ihr Kind.
Das Wasser stand ihm nun bis zum Kinn. Und es schien weiter zu steigen.
»Steht der Aufzugjetzt auf festem Boden?«, fragte er. »Hängt er nicht mehr in der Luft?«
»Das Drahtseil ist gerissen. Der Lift ist auf irgendetwas zum Stehen gekommen, aber ich weiß nicht, wie solide das ist. Um das herauszubekommen, müsste ich Sie loslassen.«
»Das Wasser steigt weiter.«
»Ich ruhe mich einen Augenblick aus. Dann versuche ich noch einmal Sie hochzustemmen.«
Sie spürte, wie er seufzte. Er war völlig regungslos. Sie vermutete, dass er nicht einmal zittern konnte.
»In dem Dorf meines Großvaters, in China«, begann er zu erzählen, »holten die Leute ihr Trinkwasser aus einem Brunnen. Er lag etwas außerhalb des Dorfes an einem Pfad im Bambuswald. Die Gegend war eigentlich nicht trocken; es gab noch einen Fluss in der Nähe, doch dessen Wasser war ungenießbar wegen der Papierfabrik etwas weiter flussaufwärts. Deshalb gingen die Dorfbewohner jeden Tag zum Brunnen und kehrten mit Eimern frischen Wassers wieder in ihre Häuser zurück.
Eines Tages kam ein kleiner Junge aufgeregt ins Dorf gelaufen und rief: ›Da ist ein Tiger im Brunnen!‹ Alle Dorfbewohner griffen zu Stöcken und Stricken und was sie sonst gerade zur Hand hatten, und folgten dem Jungen. Sie drängten sich um den Brunnenrand und schauten hinab, und tatsächlich, da war ein Tiger. Es war ein großer Brunnen mit einem gemauerten Absatz ein Stück weiter unten, und auf diesem Absatz saß der Tiger und konnte nicht mehr heraus.
Die Leute wussten nicht, was sie tun sollten. Solange der Tiger dort unten saß, konnten sie kein Wasser schöpfen. Das Raubtier fauchte wütend, wenn ein Eimer in den Brunnen hinabgelassen wurde, und warf ihn samt Inhalt um. Wenn sie ihn aber töteten, fiele er in den Brunnen und sein Kadaver würde das Wasser vergiften. Sie hätten ihn sowieso nicht töten können. Und ebenso wenig war daran zu denken, ihn lebend herauszuholen.«
Er hielt inne. Sally hob seinen Kopf etwas an.
»Was haben die Dorfbewohner getan?«, fragte sie.
»Sie haben zu den Göttern gebetet, was sonst. Die Götter schickten Regen – viel Regen. Der Brunnen füllte sich mit Wasser und der Tiger ertrank. Dann zogen sie den Körper des toten Tieres heraus und der Brunnen war wieder benutzbar.«
»Ich verstehe.«
»Mir ist diese Geschichte wieder eingefallen, weil sie Ähnlichkeiten mit unserer gegenwärtigen Lage hat.«
»Und wer von uns beiden ist der Tiger?«
Er antwortete nicht.
Sally saß zitternd vor Kälte da und fragte sich, ob sie noch die Kraft haben würde, ihn wieder hochzuziehen. Wenn es ihr gelänge, ihn gegen eine Seite des Aufzugs zu stützen, würde sein Oberkörper aus dem Wasser ragen. Sie musste etwas unternehmen.
»Holen Sie tief Luft«, sagte sie. »Ich versuche es noch einmal. Ihr Gesicht wird einen Augenblick unter Wasser sein, damit ich Sie fest umfassen kann.«
Er nickte, atmete ein und nickte nochmals. Sie stellte sich auf beide Beine, ließ seinen Kragen los, packte ihn an der Schulterpartie seines Mantels und zog ihn hoch. Vielleicht lag es an der Auftriebskraft seines Körpers im Wasser, auf jeden Fall fiel es ihr diesmal leichter: Ein Ruck und er saß aufrecht.
Doch dann geschah etwas mit ihm. Sein massiger Körper verkrampfte sich plötzlich, als ob ihn etwas mit eiserner Faust ergreifen und zerdrücken würde. Er keuchte und würgte und gab einen schauerlichen Ton, halb Stöhnen, halb Seufzer, von sich. Sein Kopf sackte zur Seite. Sally hielt ihn, auf halber Höhe abgestützt, schon nicht mehr im Gleichgewicht und mit hämmerndem Herzen. Sie tastete nach seinem Gesicht. Ihre Finger berührten seine Augen, doch er tat keinen Wimpernschlag.
Entsetzt zog sie ihre Hand weg. Einen Augenblick später hatte sie sich wieder gefasst. Er war tot, ja … Sie tastete abermals nach seinem Gesicht und schloss ihm die Augen. Dann versuchte sie ihn langsam nach unten sacken zu lassen, doch er entglitt ihr und fiel mit einem lauten Platsch ins Wasser.
Sally schüttelte sich das Wasser von den Händen und rieb sie unwillkürlich. Dann tat sie einen solch tiefen Seufzer, dass daraus ein langes Gähnen wurde.
Sie streckte die Hand aus, um die seitliche Begrenzung des Lifts zu ertasten, und traf auf die eiserne Gittertür, die zwar verbogen und eingeklemmt war, aber doch einen festen Halt bot. Sie
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