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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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kam Rauch und eine Kutsche stand in der Auffahrt. Mehrere Dienstboten machten sich im Speisezimmer zu schaffen.
    Sie hatte sich gerade hinter den Sträuchern vor dem Tor versteckt, als die Haustür aufging und Parrish heraustrat.
    Er stand gähnend vor dem Eingang, streckte und kratzte sich. Er tat so, als gehöre ihm das Haus. Was die anderen dachten, kümmerte ihn nicht.
    Am liebsten hätte sie etwas nach ihm geworfen, wäre aus ihrem Versteck gelaufen, hätte ihn angeschrien und geohrfeigt. Sie suchte sogar nach einem Stein. Doch dann kam eine Frau mit einer Schürze, wie sie Kindermädchen trugen, aus dem Haus und sagte etwas zu ihm. Er nickte, ging wieder ins Haus zurück und schloss die Tür.
    Hieß das etwa, dass Harriet hier war? Hatten sie sie am Ende in ihrer Gewalt?
    Sarah-Jane spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Dass so etwas in England geschehen konnte – dass das Gesetz dies auch noch unterstützte … Sie schluckte. Es war einfach zu viel für sie.
    »Sarah-Jane?«
    Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Diese Stimme kannte sie doch. Sie drehte sich um und dann öffnete sich ihr Mund, sie fühlte sich schwindelig und musste sich mit einer Hand an der Mauer abstützen.
    Denn auf der Straße stand, den Rucksack über der Schulter und einen Strohhut auf dem Kopf, ein schlanker junger Mann mit strohblondem Haar, sonnengebräuntem Gesicht und klaren grünen Augen.
    »Was zum Teufel geht hier vor?«, sagte er.
    »Jim! O Jim – «
    Und sie schlang ihre Arme um seinen Hals und zitterte, schluchzte und lachte. Nie zuvor in seinem Leben war Jim so überrascht.

 
Tinte
     
     
    Es dauerte fast eine Minute, ehe sie ihre Sprache wiederfand. Sie klammerte sich an ihn, lachte und heulte abwechselnd – und blickte dabei immer wieder zum Haus hinüber, so dass Jim, auch ohne zu fragen, wusste, dass dadrin etwas nicht stimmte. Er zog sie hinter das Gebüsch, damit sie vom Haus aus nicht gesehen werden konnten, löste sich aus ihrer Umarmung und bedeutete ihr, sich auf einen Stein zu setzen.
    »Wir sind gestern Nacht in Southampton angekommen«, sagte er. »Mr Webster ist noch dort und überwacht den Rücktransport des Gepäcks. Ich habe mich zusammen mit Charles Bertram auf den Weg gemacht. Ich wollte euch alle überraschen. Habt ihr denn unsere Post nicht bekommen? Was geht hier eigentlich vor?«
    »Wir haben seit Wochen keine Briefe mehr erhalten. Sie müssen sie alle weggeworfen haben – Jim, sie haben alles mitgenommen – «
    »Beruhig dich doch und red nicht so wirr daher. Man versteht ja gar nichts. Erzähl mir alles, und zwar von Anfang an.«
    Sie holte tief Luft.
    »Ja, entschuldige. O Gott, ich weiß noch nicht einmal, wo sie ist …«
    »Nun fang an«, knurrte er.
    »Ja, gut. Es begann damit, dass … Oh, es war der Gerichtsbote mit dem Scheidungsantrag. Er kam eines Morgens hierher …«
    Manches brachte sie durcheinander oder vergaß es, so dass sie immer wieder neu ansetzen musste, Einzelheiten nachtrug, damit es klarer und deutlicher wurde.
    Nachdem sie ihm alles erzählt hatte, zeigte er sich zuerst ungläubig, dann entsetzt, schließlich empört und am Ende fuchsteufelswild.
    »Und du meinst, dieser Bastard ist jetzt dadrin?«
    »Ja, er muss letzte Nacht gekommen sein. Mit seinem ganzen Gefolge. Er hat auch Dienstboten mitgebracht. Und all unsere Möbel sind fort – alles, was hier ist, gehört ihm – «
    »Hat er auch Harriet?«
    »Ich weiß es nicht. Es ist zumindest eine Frau da, die wie ein Kindermädchen gekleidet ist. Vielleicht hat er sie. Was willst du tun?«
    »Ihn rauswerfen!«
    Er holte ein Klappmesser aus seinem Rucksack und schnitt sich einen dicken Zweig vom nächsten Baum.
    »Aber Jim, er ist nicht allein im Haus. Er hat eine ganze Bande bei sich.«
    »Schau einfach nur zu«, sagte er.
    Er schulterte seinen Rucksack und trat auf die Straße hinaus. Sie hatte ihn noch nie so gesehen: Jeder Muskel, jede Faser seines Körpers schien vor Zorn zum Bersten gespannt. Er machte ihr richtiggehend Angst. Sarah-Jane stolperte hinter ihm her – und blieb plötzlich stehen.
    Mitten auf der Straße stand ein Mann vor ihnen. Nicht Parrish, sondern jemand, den sie noch nie zuvor gesehen hatte, elegant, dunkelhaarig und irgendwie gefährlich aussehend. Er sah Jim fragend an, ohne indes aus dem Weg zu gehen.
    »Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte Jim.
    »Mein Name ist Mendel. Jonathan Mendel.«
    Sarah-Jane sah, dass Jim andächtig den Kopf hob, so als ob er mit diesem Namen etwas

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