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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Tür ein!«
    Salomons nahm Goldbergs heilen Arm und zog ihn in den rückwärtigen Teil des Ladens, während Mrs Salomons so tat, als mache sie sich am Türschloss zu schaffen.
    »Schon gut, schon gut. Ich muss nur erst den richtigen Schlüssel finden – «
    »Es gibt einen Hinterausgang«, teilte ihm der Bäcker in aller Eile mit. »Hier ist der Schlüssel. Er führt auf die Cropper Alley. Sie können durch den Hof von Queen’s Head schleichen und kommen dann in die Brick Lane – « Doch es war schon zu spät. Ein Polizist stand vor dem Ausgang, als Salomons die Tür öffnete.
    »Jetzt hab ich dich«, sagte er.
    Goldberg wandte sich an Moishe Lipmans Boten und sagte ihm auf Jiddisch: »Rufen Sie Kid Mendel an. Nummer 4214. Sagen Sie ihm, was passiert ist.« Dann auf Englisch, an den Polizisten gewandt: »Ich komme mit, Constable. Zum Weglaufen bin ich zu müde. Und bitte zerren Sie nicht an meinem Arm; in dem hat bis vor kurzem noch eine Kugel gesteckt.«
    Der Bäcker nahm rasch ein paar warme Brötchen und steckte sie Goldberg in die Manteltasche.
    »Das ist alles, was ich für Sie tun kann, Mr Goldberg«, sagte er. »Gott schütze Sie.«
    Der Riegel der Eingangstür sprang zurück und die anderen Polizisten stürmten herein.
    Moishe Lipmans Bote beobachtete noch, wie Goldberg abgeführt wurde, und dann hörte man etwas in der Holywell Street, was niemand eine halbe Stunde zuvor für möglich gehalten hätte. Die Menge draußen, Juden und Nichtjuden, stieß, vereint in der Sympathie für den gefangen genommenen Delinquenten, heisere Hochrufe auf Goldberg aus.
    Der Bote sah, wie der Volksheld in einen Polizeiwagen stieg und die Polizisten die Menge zerstreuten. Dann ging er und machte sich auf die Suche nach dem nächsten Telefon.
     
    Sally konnte nicht erkennen, wie viel von dem Haus zusammengestürzt war. Der Aufzug, der sie über dem Wasser hielt, hatte den größten Teil der herabfallenden Mauerbrocken aufgehalten, doch es war vollkommen dunkel. Was sie noch mitbekam, waren Geräusche, Gerüche und ein Gefühl der Kälte. Von den einstigen Abwässerkanälen, die in den Blackbourne flossen, ging ein fauliger Gestank aus, der immer stärker wurde.
    Auch das Wasser stieg weiter. Bald stand es einen Zoll tief über dem Aufzugboden.
    Sally saß neben Ah Lings Kopf und versuchte zu beschreiben, was um sie herum vorging.
    »Gibt es irgendwo Licht?«, fragte er.
    »Nein. Nicht den kleinsten Schimmer. Ist Ihnen kalt?«
    »Ja. Wie viele Männer sind die Treppe heruntergekommen?«
    »Ein Lakai und der Butler, glaube ich. Sie waren nur für einen Augenblick zu sehen, ehe sie ins Wasser fielen. Dann ging das Licht aus. Ich glaube, die ganze Wand ist eingestürzt.«
    »Dann müsste der Zufluss jetzt blockiert sein.«
    »Der Strom dürfte sehr tief sein, bei dem vielen Regen – «
    Irgendetwas fiel von oben auf den Lift und schüttelte sie beide. Sally hielt sich an Ah Ling fest, um das Gleichgewicht zu halten. Sie hörte ein knarrendes Geräusch, als sich der Aufzug zu neigen begann. Das Drahtseil!, dachte Sally noch, dann gab es einen Knall so laut wie ein Pistolenschuss und der Liftboden tauchte ab.
    Der Sturz war nicht tief, vielleicht dreißig Zentimeter, aber der Ruck war so heftig, dass Sally auf den Rücken geworfen wurde. Sie versuchte wieder auf die Beine zu kommen, doch das eindringende Wasser brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie schrie auf, als sie merkte, dass Ah Lings Kopf unter Wasser lag.
    Sie tastete nach Schultern und Kopf und hievte unter Anspannung all ihrer Kräfte den keuchenden und würgenden Gelähmten aus dem Wasser. Dann bettete sie ihn auf ihr Knie.
    Nachdem er wieder zu Atem gekommen war und sie ihm das Wasser aus Gesicht und Augen gewischt hatte, sagte sie: »Ich versuche jetzt Sie aufrecht hinzusetzen. Sonst ertrinken Sie.«
    Behutsam, damit er nicht umfiel und sein Kopf wieder unter Wasser geriet, kniete sie sich hinter ihn und versuchte seinen Oberkörper hochzuschieben. Alle Umstände waren gegen sie: Seine Kleider waren mit Wasser voll gesogen, der Boden neigte sich in die falsche Richtung, so dass sein Kopf tiefer lang als seine Füße, und ihre Arme zitterten so stark vor Kälte und Erschöpfung, dass sie ihn kaum halten konnte. Sie stemmte seine Schultern hoch, doch der Kopf sackte seitwärts weg. Als sie versuchte das zu verhindern, rutschten wiederum seine Schultern aus ihrem Griff. Sally startete einen neuen Versuch, drückte dabei aber seinen Kopf zu stark nach vorn, so dass

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