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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Empörung und unseren gerechten Zorn zu erregen, kann er mit einer ordentlichen Abreibung rechnen.«
    Während Mendel seine Leute herbeirief, schnitzte Jim seinen Stock zurecht und probierte, wie gut er in der Hand lag.
    »Üblicherweise benutze ich einen Schlagring«, teilte er dem Gangsterboss mit. »Aber gegen zehn Meter lange Würgeschlangen oder Giftfrösche ist so was nicht sehr wirkungsvoll, deshalb habe ich keinen bei mir. Doch ich denke, das hier tut’s auch.«
    Sarah-Jane schaute sich Mendels Gefolge ausgesuchter harter Burschen an. Ihre kantigen, von Narben gezeichneten Visagen machten den Eindruck, als hätten sie jahrelang in Sünde gelebt. Und Jim, mit seiner sonnengegerbten Haut und dem gefährlichen Funkeln in den Augen, sah aus wie ein Pirat.
    »Gentlemen«, sagte er, »ich habe das Vergnügen, Sie zum Frühstück einzuladen. Sarah-Jane, sobald wir drin sind, schaust du dich nach Harriet um. Man weiß ja nie. Wenn sie hier sein sollte, dann bleib bei ihr, bis ihr ohne Gefahr rauskommen könnt.«
    Sarah-Jane schlug das Herz bis zum Hals, sie wusste nicht, ob aus Furcht oder Aufregung. Vielleicht war es eine Mischung aus beidem. Zusammen mit Jim, Mr Mendel und den anderen Männern ging sie an der Grundstücksmauer entlang und dann durch die Pforte in den mit dichtem Gesträuch bepflanzten hinteren Teil des Gartens.
    Jim zeigte auf die Glas- und Eisenkonstruktion an der Mauer zu ihrer Rechten.
    »Wenn wir auf die Mauer klettern, brauchen wir nur ein paar Schritte zu gehen und gelangen zum Badezimmerfenster – sehen Sie es? Da, neben dem Efeu. Sollte der Herr gerade ein Bad nehmen, müssen wir natürlich die Augen schließen, wenn wir einsteigen. Alles klar, Sarah-Jane?«
    Sie nickte. Sie war nicht schwindelfrei, aber die Mauer war nicht sehr hoch, vielleicht drei Meter. Und hier konnte man von der Küche und dem Esszimmer aus, wo Parrish und seine Mannen zu sitzen schienen, nicht gesehen werden.
    Jim fand die alte Holzleiter im Gras und stellte sie auf.
    »Na, dann los!«, sagte er frohgemut.
     
    Sally stieß mit dem Kopf gegen Mauerwerk, dann war sie unter Wasser. Ihr Nachthemd legte sich um sie wie Blei, und es gelang ihr nicht, sich von ihm zu befreien. Sie musste kämpfen, kämpfen, um wieder an die Oberfläche zu kommen. Und irgendwie schaffte sie es und hatte schließlich wieder festen Boden unter den Füßen.
    Sally warf die Arme nach oben und suchte nach einem Halt – Nichts – Dann bekam sie doch etwas Hartes zu fassen – In den tosenden, wirbelnden Wassermassen hielt sie sich daran fest.
    Etwa, worauf sie stehen, etwas, woran sie sich festhalten konnte.
    »Ich werde nicht sterben!«, schrie sie. »Ich werde nicht sterben!«
    Weil der Tritt rutschig war und weil sie ein paar Zentimeter weiter einen besseren Halt für ihre Hand gefunden hatte, stieß sie sich ab und versuchte sich nach oben zu ziehen.
    Wenn sie nur etwas hätte sehen können. Einen Fußbreit mehr nach rechts oder links entschied über Rettung und Verderben. Aber so durfte sie nicht denken, denn das hätte sie gelähmt. Also klammerte sie sich an ihren Haltegriff (ein Moniereisen, das aus den Mauerbrocken ragte), biss die Zähne zusammen und zog sich langsam, ohne auf das Zittern ihrer Muskeln zu achten, bis zur Hälfte aus dem Wasser.
    Sie tastete weiter und fand freien Raum. Hinter dem Moniereisen erfühlte sie Ziegelsteine, Mörtel, Mauerbrocken, Gips, aber darüber war eine Lücke.
    Noch eine kleine Anstrengung und sie war aus dem Wasser, voller Quetsch- und Schürfwunden und klamm vor Kälte. Keuchend lag Sally auf der steinigen Fläche und versuchte wieder zu Atem zu kommen.
    Dann rollte sie sich auf den Rücken. Steine und die Kanten von Ziegeln bohrten sich in ihre Rippen – aber über ihr war Licht.
    Das war keine Einbildung.
    Es verschwand nicht, wenn sie die Augen schloss und wieder öffnete: ein kleiner Fleck grauen Tageslichts weit über ihr.
    Sally setzte sich auf und reckte den Hals, um besser sehen zu können. Dabei stieß sie mit dem Kopf gegen etwas und löste einen kleinen Steinschlag aus. Vor Schmerz schrie sie auf und wäre beinahe abgerutscht und zurück ins Wasser gefallen.
    Sie hielt die Hände schützend über ihren Kopf und spähte nochmals nach oben. Kein Zweifel: Das war der Aufzugschacht und hoch über ihr war der Himmel.
    »Hilfe!«, rief sie. Und noch einmal: »Hilfe! Hilfe!«
    Wenn aber das ganze Haus zusammengestürzt war, gab es vielleicht niemanden mehr, der ihr noch hätte antworten

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