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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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richtete sich auf.
    Der Aufzugboden neigte sich zu der Stelle hin, an der das Wasser in den Raum eindrang. Unter dem Gewicht der Mauerbrocken, die durch den Schacht heruntergefallen waren, war das Drahtseil gerissen. Der Lift war auf festem Grund gelandet. Zumindest fühlte es sich fest an. Es wackelte jedenfalls nicht, als Sally sich an der Aufzugswand entlangbewegte, wobei sie vermied, auf den toten Körper zu treten.
    An der seichtesten, der hinteren Stelle stand ihr das Wasser bis zu den Knien. An der offenen Seite war es schon bis auf Hüfthöhe gestiegen. Sally klammerte sich mit einer Hand an die Gittertür und tastete mit der anderen Halt suchend nach draußen. Während sie sich hinauslehnte, knarrte die Aufzugzelle und geriet ins Schwanken. Wieder fielen Brocken über und neben ihr den Schacht hinab.
    Sie fror. Der Lift stand. Wenn er allerdings nach vorn fiele, würde sie unter ihm begraben werden.
    Behutsam verlagerte sie ihr Gewicht und zog sich wieder in den Aufzug zurück. An den Füßen spürte sie das rasch fließende Wasser – inzwischen neigte sich der Aufzug noch stärker.
    Den Schwerpunkt nach unten verlagern, dachte sie und begab sich halb in die Hocke. Bis zur Brust im Wasser, suchte sie mit einem Fuß draußen noch einmal nach einem festen Tritt.
    Da drückte etwas Weiches und Massiges von hinten gegen sie …
    Ah Lings Körper rutschte auf sie zu.
    Sally schrie auf.
    Vor Schreck verlor sie die Balance, das zusätzliche Gewicht, das gegen sie drängte, überstieg ihre Kräfte. Ihre Hand löste sich von der Gittertür, sie fiel und suchte verzweifelt, sich am Rand des Aufzugbodens festzuhalten. Sie bekam ihn auch zu fassen, doch dann wischte Ah Lings Körper sie wie eine Fliege beiseite und zog sie mit hinab in die reißenden Fluten.
     
    Harriet saß auf dem Dachboden eines Stalls in Lambeth und kaute an einer Brotkruste, während sich ihre Beschützer Bücklinge über einem rauchigen Feuer brieten. Die Jungen hatten die Kutsche samt Pferd irgendwo in Vauxhall stehen lassen. Liam war darüber verärgert, doch Bills Begründung war nichts entgegenzuhalten.
    »Wir müssen uns erst mal um das Kind kümmern. Deswegen sind wir ja überhaupt losgezogen. Sicher, für den Gaul hätten wir ein paar Pfund gekriegt, aber was soll’s? Einen Gaul kann man sich immer besorgen, davon gibt’s Tausende in London. Wenn wir aber das Kind verlieren, was dann?«
    Also waren sie zu einem der vielen schäbigen Quartiere gekommen, die ihnen als Unterschlupf dienten (immer einen Fußbreit neben dem Gesetz und dem Besitzer). Sie hatten die immer noch bewusstlose Bridie auf einen Haufen leerer Säcke gelegt, Harriet mit einem Stückchen Brot neben sie gesetzt und mit dem Braten der Fische begonnen, die dort seit ihrem letzten Besuch vor drei Tagen lagerten.
    Zwei Dinge beschäftigten die Jungen. Erstens mussten sie einen sicheren Ort für Harriet finden, sie konnten sie nicht ständig von Versteck zu Versteck mitschleppen. Und zweitens machte ihnen Bridie Sorgen. Gewiss, sie war hart im Nehmen, aber sie war jetzt doch schon sehr lange bewusstlos. Es wurde Zeit, dass sie sich um ärztliche Hilfe bemühten. Vielleicht hätten sie das schon längst tun sollen. Womöglich würde sie sterben.
    Harriet saß gleichmütig neben ihr und beobachtete alles um sich herum mit Interesse. Die Dame schlief, aber die Gentlemen nicht. Sie machten sich wohl gerade Frühstück. Das Sackleinen roch angenehm nach Pferd, genauso wie im Stall daheim in Orchard House. Und das Frühstück duftete wie das Essen, das Mrs Perkins manchmal zum Frühstück machte.
    Dann bemerkte sie, dass die Dame die Augen aufgeschlagen hatte und sie anschaute. Jetzt war sie also wach. Bereit zu teilen, hielt Harriet ihr die Brotkruste hin. Die Dame nahm sie zwar nicht, aber langsam erwachte ein Lächeln auf ihrem Gesicht und sie streckte die Hand aus, um Harriets zerzaustes Haar zu streicheln.
    »Sie ist aufgewacht!«, rief jemand. Sogleich drängten sich alle um sie.
    »Teufel noch mal, Bridie, hast du uns einen Schrecken eingejagt«, sagte Liam. »Wir dachten wirklich, du würdest demnächst den Löffel abgeben.«
    »Das könnte euch so passen«, sagte Bridie.
    »Euch so passen«, echote Harriet. Sie mochte diese Dame. Vor allem gefiel ihr die Art, wie sie redete, ein sonores Schnurren wie das einer großen Katze.
    Sie probierte es gleich noch mal. »Euch so passen.«
    »Bist ein liebes Mädchen. Aber still! – Was war das?«
    Geschrei kam von unten und dann

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