Der Tiger im Brunnen
schäbige Pension, aus deren Eingang Licht und Wirtshauslärm auf die Straße drang. Bill trat ein und kämpfte sich durch die im Flur stehenden Menschen, die keinen Einlass mehr zu der sozialistischen Versammlung im Saal erhalten hatten und von draußen zuhörten. Er wollte in den dritten Stock hinauf. Obwohl das Haus eigentlich eine Pension war, wirkte es doch eher wie ein Club. In einem Raum voll von Büchern und Zeitungen saßen drei oder vier Leute und lasen oder schrieben still vor sich hin. In einem anderen wurde an mehreren Tischen Schach gespielt. In einem dritten erläuterte ein bärtiger Herr einer kleinen Gruppe von Studenten, welche Vorteile der Anarchismus böte, doch schienen die Zuhörer von seinen Ausführungen nicht sonderlich überzeugt.
Bill klopfte an die Tür, unter der ein Lichtstreifen’ zu sehen war. Eine Stimme rief: »Ja? Immer herein!«
Bill trat ein. Das Zimmer war überheizt und verräuchert. Im Schein der Lampe stapelten sich Bücher, Zeitungen und sonstige Papiere auf dem Schreibtisch und auf dem zerschlissenen Teppich.
Hinter dem Tisch saß der Mann, dessentwegen Bill gekommen war, und ihm gegenüber saß ein Mann namens Kid Mendel. Bill blieb mit großen Augen stehen und nahm die Mütze ab, denn Kid Mendel war der anerkannte Boss der jüdischen Unterwelt Sohos. Zwischen Juden, Iren und Italienern hatte sich ein Mächtegleichgewicht eingependelt, über das Kid Mendel wie ein Staatsmann oder König wachte. Er war ein Mann in den Dreißigern, hochgewachsen, elegant gekleidet, mit schelmischen Augen und dem Ansatz einer Stirnglatze. Man wusste von ihm, dass er eigenhändig zwei Männer umgebracht und den Bankraub in der Wellington Street angestiftet hatte; sogar die Polizei wusste das. Aber Mendel war zu gerissen für sie. Er hatte angekündigt, er wolle sich bis zum Beginn des neuen Jahrhunderts als reicher und allseits geachteter Mann nach Brighton zurückziehen und sich um einen Parlamentssitz bemühen. Da er diese Absicht mit ernster Miene äußerte und da er Kid Mendel hieß, zweifelte daran niemand.
Und wenn dieser große Mann zu Mr Goldberg kam, dem Mann, mit dem Bill etwas zu erledigen hatte, dann gewann dieser Gentleman in Bills Augen noch an Achtung.
Mr Goldberg schwenkte seine Zigarre.
»Das ist mein Freund Bill Goodwin«, stellte er Bill seinem Gast vor. »Wir sind gleich fertig, Bill.«
»Guten Abend«, sagte Kid Mendel zu Bill, der schüchtern vortrat, um Mendel die Hand zu schütteln. »Wo kommst du her, junger Mann?«
»Aus Lambeth, Mr Mendel«, brachte Bill leise hervor.
»Dan sagt mir, du seist ein ausgeschlafener junger Mann. Vielleicht können wir uns bei Gelegenheit einmal unterhalten.« Er erhob sich und sagte zu Goldberg gewandt: »Nun, mein lieber Freund, ich muss weiter. Das Gespräch war sehr interessant, da entwickelt sich etwas, wenn ich mich nicht täusche. Auf Wiedersehn, Bill.«
Ehrfürchtig sah Bill ihm nach.
Goldberg lachte und Bill wandte sich wieder um. Der Mann hinter dem Schreibtisch war jünger als Kid Mendel, aber viel mehr wusste Bill nicht von ihm. Etwas Geheimnisvolles und vielleicht auch Teuflisches umgab ihn. Bill hätte sich nicht gewundert, wenn er an ihm plötzlich Hörner, einen Pferdefuß und einen wedelnden Schwanz entdeckt hätte. Der Geruch seiner Zigarre war jedenfalls beißend wie Schwefel. Einst war der Mann vor dem Polizeigericht in Lambeth erschienen. Damals spielte Bill die Hauptrolle in einem Stück, in dem es um eine Brechstange, eine eingeschlagene Fensterscheibe und eine Menge gestohlenes Silber ging. Bill hatte ihn zuvor nie gesehen, war aber so beeindruckt von Goldbergs Aussage vor Gericht, dass er ihn noch am gleichen Tag auf einem Ausflug jüdischer Waisenkinder nach Hampstead Heath begleitete.
»Ich habe es, Mr Goldberg«, sagte er und legte die Ledertasche auf den Tisch. »Und das auch.«
Damit legte er das speckige Notizbuch daneben.
»Ausgezeichnet«, sagte Goldberg. »Setz dich doch. Hast du nachgezählt?«
»Nein, wie könnte ich.« Der bloße Gedanke schien Bill zu kränken. »Ich habe es nicht angerührt, außer dass ich Liam seinen Anteil gegeben habe.«
Mit einer fegenden Armbewegung schob Goldberg die Papiere auf dem Schreibtisch beiseite und leerte die Ledertasche aus. Gold- und Silbermünzen sowie gebündelte Banknoten kamen zum Vorschein. Geschwind machte sich Goldberg ans Zählen.
»Dreihundertdreißig Pfund. Hier sind zwanzig für dich, zehn sind für meine Auslagen, bleiben dreihundert.
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