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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Boden.
    Oh, dieses Gefühl der Hilflosigkeit … Ein Spion in der Küche, ein gefälschter Eintrag im Heiratsregister. Was würde wohl noch alles kommen? Und warum? Am Ende stand die schrecklichste Zeile des Klageantrags: Jemand wollte ihr Harriet wegnehmen.
    Sally stieg nach oben und ging mit einer Lampe in Harriets Zimmer. Das Kind schlief ruhig, sein glattes, gekämmtes Haar glänzte, ein nacktes Armchen lag wie ein Kissen unter dem klaren, unschuldigen Gesicht. Der Teddybär hing halb über der Bettkante und drohte jeden Augenblick auf den Boden zu fallen. Sally legte ihn wieder neben Harriet und küsste ihre Tochter. Niemand würde ihr Harriet wegnehmen, niemals.
    Sie deckte sie zu und ging wieder nach unten. Sie konnte Rosa schreiben, warum war sie nicht schon früher auf diesen Gedanken gekommen? Fredericks Schwester war ihre älteste Freundin – und sie war zudem mit einem Geistlichen verheiratet. Vielleicht sah ihr Mann eine Möglichkeit, diesen Mr Beech aus Portsmouth aufzuspüren.
    Gut, immerhin etwas Positives. Sie drehte die Öllampe höher, setzte sich an den Tisch und begann zu schreiben.
     
    Mr Parrish zog an diesem Abend nicht nur Sallys Aufmerksamkeit auf sich. In einer Kneipe an der Ecke der Blackmoor Street hatten zwei junge Burschen schon geraume Zeit an einem Tisch mit Blick auf die Straße gewartet. In den meisten Büros ringsum waren die Lichter schon ausgegangen, die Gebäude leerten sich und die Angestellten und Geschäftsleute strebten heimwärts nach Holloway und Islington, Camberwell und Brixton. In Mr Parrishs Büro brannte noch Licht. Die beiden jungen Männer wussten genau, warum, und sie wussten, dass es nun Zeit für sie war.
    Beide waren hager und sahen verwegen aus. Ihre Schildmützen hatten sie tief in die Stirn gezogen. Der eine trug einen weißen Schal, der andere ein blau-weiß kariertes Tuch um den Hals; beide hatten blank polierte, mit Messingnägeln beschlagene Gürtel, wie es damals in Lambeth und anderen Vierteln südlich der Themse Mode war. Einer hatte schwarzes, der andere rotes Haar. Der Schwarzhaarige hörte auf den Namen Bill, war mittelgroß und sprach recht leise, aber selbst Männer, die ihn um Haupteslänge überragten, überlegten es sich zweimal, ihm gegenüberzutreten. Was sie zurückhielt, war sein kalter, furchtloser Blick; auch die Narben an seinen Fingerknöcheln gaben zu denken.
    Sein Kumpan hieß Liam und sah noch verwegener aus. Beide hatten sich offenbar nicht viel zu sagen.
    Bill drückte sich die Mütze noch tiefer in die Stirn, ließ sein halb volles Bierglas stehen und trat auf die Straße. Liam folgte ihm wortlos. Sie erwarteten einen Mann, der, wenn alles wie in den letzten drei Wochen ablief, in etwa zehn Minuten in die Blackmoor Street einbiegen und in Mr Parrishs Büro gehen würde. Zwischen der Drury Lane, aus der der Mann kommen sollte, und dem Eingang des Bürogebäudes führte eine schmale Seitengasse zu einem kleinen Hof, dem Clare Court, und genau dorthin lenkten Bill und Liam ihre Schritte, so als ob sie schon immer dort gewohnt hätten.
    Bills Sinne, geschärft im kriminellen Dickicht von Lambeth, warnten ihn vor einem Polizisten, der hinter ihnen die Blackmoor Street heraufkam. Er gab Liam ein Zeichen und sie drückten sich in einen Hauseingang. Dort warteten sie, bis die Schritte vorüber waren. Dann befassten sie sich mit dem Nachteil des Hofs, nämlich mit der Gaslaterne, die an einem Eisenarm gut drei Meter über ihnen hing. Bill hatte sie schon lange als Gefahrenquelle erkannt und sich überlegt, wie mit ihr zu verfahren sei.
    »Hier«, sagte er ruhig zu Liam, »ich helfe dir rauf. Nimm das und reiß den Gashahn aus der Verankerung.«
    Damit reichte er Liam eine starke Zange, verschränkte die Hände zur Räuberleiter und hob ihn hoch. Eine rasche Drehung mit der Zange und die Laterne erlosch. Gas strömte in die Nachtluft. Na wenn schon, dachte Bill. Sie würden sich hier nicht lange aufhalten.
    Er holte eine Spiegelscherbe aus der Tasche, deren scharfe Kanten in einer Pappe steckten, um die Hosentasche nicht zu ruinieren, und hielt sie an die Mauerecke. So konnte er sehen, wann der Mann kam.
    Auf der Straße war es still geworden; auch die Kneipe leerte sich, nach und nach tranken die Männer ihr Bier aus und gingen – von mehr oder weniger großem Verlangen getrieben – heim zu ihren Carries, Adelines und Emilies. Einige Nachzügler tauchten in Bills Spiegel auf. Er blieb ruhig im Schatten des Hauseingangs stehen, bis auch

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