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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Nun Folgendes. Kennst du das jüdische Flüchtlingsheim in der Leman Street?«
    »Leman Street – das ist doch in der Nähe der Docks, oder?«
    »Genau. Ich möchte, dass du das Geld dorthin bringst und dem Heimleiter übergibst. Sag ihm, es stamme von einem Spender, der anonym bleiben möchte. Wenn er Umstände macht, frage ihn auf den Kopf zu, ob er das Geld braucht oder nicht.«
    »Mach ich, Mr Goldberg. Wozu aber dieses Notizbuch? Ich habe versucht darin zu lesen, aber ich habe nichts kapiert. Muss wohl an der Handschrift liegen.«
    »Muss es wohl, Bill. Schau, der Melamed ist da. Mr Kipnis. Er wartet nebenan auf dich. Nimm dein Buch – da auf dem Stuhl neben dem Fenster liegt es.«
    Bill nahm das kleine leinengebundene Buch, auf das Goldberg gezeigt hatte, bedankte sich und verließ das Zimmer. Goldberg zündete sich erneut seine Zigarre an, lehnte sich, die Füße auf dem Tisch, im Sessel zurück und studierte das Notizbuch.
     
    Ein Melamed ist ein Hebräischlehrer; freilich kein Gelehrter wie ein Rabbi, vielmehr ein armer Hilfslehrer, der seinen Lebensunterhalt damit verdient, kleinen Rotznasen die Anfangsgründe des Hebräischen beizubringen. Dieser Melamed sollte Bill aber nicht Hebräisch lehren, sondern Lesen und Schreiben in Englisch, denn Bill war Analphabet und als Jude schämte er sich dafür sehr.
    Er war sich nicht von jeher bewusst gewesen, jüdisch zu sein. Ganz sicher war er sich nicht, wer er war und woher er stammte. Bei irischen Familien in Lambeth aufgewachsen, hatte er sich vor der Volksschule gedrückt und als Kind der Straße nur Tricks und Gewalt kennengelernt. Mit dreizehn hatte sein Leben dann eine andere Richtung genommen. Es hatte sich ergeben, dass er im Haushalt eines armen jüdischen Schneiders namens Reuben Levy auszuhelfen hatte. Dort, am Walnut Tree Walk, hatte er sich in Rebecca, die Tochter des Schneiders, verliebt – eigentlich weniger in sie persönlich, als in das für ihn so faszinierende, herzliche Familienleben mit seinen schönen Bräuchen und Traditionen. Er war wie geblendet und sehnte sich danach, auch zu dieser jüdischen Welt zu gehören.
    Nichts sprach gegen Bills Auffassung, Jude zu sein. Er sah auf jeden Fall eher jüdisch als irisch aus. Er hatte von einem Ritual gehört, dem man sich unterziehen müsse, wollte man ein ganzer Jude sein, doch bis es so weit war, musste er erst einmal lesen und schreiben lernen. Denn eines war ihm an allen ihm bekannten Juden aufgefallen: Sie waren ausnahmslos gebildet. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit legte Reuben Levy seine Schneiderarbeit beiseite und diskutierte mit seinen Mitmenschen, die er durch seine klugen Ansichten in allen Fragen der Politik, Religion, Literatur und des Rechts verblüffte. Und seine jüdischen Glaubensgenossen standen ihm in nichts nach – ganz gewöhnliche Arbeiter, die wie König Salomon zu reden verstanden. Ein Mann wie Kid Mendel, dachte Bill, musste einfach gründliche Studien treiben, musste lesen und schreiben können. Das machte ihn zu dem, der er war.
    Er behielt diesen Wunsch für sich, bis er Mr Goldberg begegnete. Mr Goldberg hatte den alten Melamed gefunden, dem die frechen kleinen Jungen in der Hebräischschule die Nerven ruiniert hatten. Er erkannte, dass dies der richtige Lehrer für Bill sein könnte. Seitdem büffelte Bill das Abc und kritzelte Buchstaben auf eine Schiefertafel. Mr Kipnis schaute ihm zu und stärkte sich mit gelegentlichen Schlucken aus einem Flachmann.
    Nebenan ließ Dan Goldberg das speckige Notizbuch in einer Schublade verschwinden, schenkte sich ein Glas Brandy ein und machte sich Notizen über eine andere merkwürdige Angelegenheit, die Mr Parrish betraf; es ging dabei um einen Prozess, den er gegen eine Frau namens Lockhart angestrengt hatte.

 
Schießübung
     
     
    Am folgenden Morgen hatte Sally mit drei Klienten zu sprechen und eine Reihe von Briefen zu schreiben. Erst am Nachmittag fand sie Zeit, ihren Anwalt aufzusuchen.
    Er schien von ihrem Besuch überrascht zu sein.
    »Es gibt wenig Neues zu berichten«, sagte er. »Der Fall kommt, wie Sie wissen, am Vierzehnten des nächsten Monats vor Gericht – erstaunlich früh, aber könnte das nicht auch sein Gutes haben?«
    »Wo sehen Sie daran das Gute, Mr Adcock? Uns bleibt kaum noch Zeit, etwas zu tun.«
    »Was wäre da noch zu tun?«
    Er spreizte die Hände. Sie konnte ihre Ungeduld kaum zügeln.
    »Sie wollen doch wohl nicht etwa behaupten, dass es nichts zu tun gäbe? Um Gottes willen, was um

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