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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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befand. Die blutige Nase und das blaue, verquollene Auge boten einen jämmerlichen Anblick, doch das war nur vom ästhetischen Gesichtspunkt her betrachtet. Dass die Ledertasche fehlte, war das Entscheidende.
    »Wo ist die Tasche?«, fragte er.
    »Das ist es ja gerade, Sir, sie ist weg.«
    »Und das Notizbuch?«
    Mr Tubb schluckte. »Auch weg. Man hat mich regelrecht ausgenommen.«
    Mr Parrish hatte die Kiefer aufeinandergepresst, seine Augen funkelten wild.
    »Wann?«, fragte er.
    »Eben erst – ich bin geradewegs hierhergekommen, Sir – «
    »Wo?«
    »In der schmalen Gasse, da links ab – ich bekam einen Schlag und dann zog man mich ins Dunkle. Ich hatte keine Chance, Sir – «
    Mr Parrish knurrte nur und verließ den Raum. Lamentierend setzte sich Mr Tubb auf einen Stuhl und wischte sich mit dem Ärmel die blutige Nase ab. Nach einer Weile kam Mr Parrish zurück. Er war etwas außer Atem vom Treppensteigen, denn er war bis zur Ecke Clare Court gelaufen, hatte wie ein Bluthund nach Spuren gesucht und war dann wieder hinauf in sein Büro gehastet.
    Er warf Mr Tubb die Trillerpfeife an den Kopf.
    »Wozu habe ich dir das gegeben«, schrie er.
    »Ich habe es ja versucht, Mr Parrish – «
    »Die habe ich in der Gosse gefunden, du Jammerlappen!«
    »Man hat sie mir aus der Hand geschlagen, Sir – «
    In seinem Zorn ließ Mr Parrish einen Hagel Schläge auf Mr Tubbs Kopf und Schultern niedergehen. Die Hiebe waren zwar nicht so wohl gezielt wie die von Bill, doch sie waren darum nicht weniger schmerzhaft. Dann ließ Mr Parrish plötzlich von ihm ab und setzte sich mit einem Seufzer nieder.
    »Bestandsaufnahme«, sagte er. »Machen wir eine Liste. Wir werden sie gemeinsam erstellen. Schließlich müssen wir wissen, wie viel wir verloren haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass uns Mr Lee das durchgehen lässt, habe ich Recht?«
    Mr Tubb pflichtete ihm schniefend bei. Mr Parrish zückte seinen Bleistift und legte ein Blatt Papier bereit.
    »Schön«, sagte er. »Wie viel Geld war in der Tasche?«
    »Dreihundertfünfzig Pfund«, antwortete Mr Tubb kläglich.
    »Hm. Das ist etwas weniger als letzte Woche«, stellte Mr Parrish fest. »Bist du sicher, dass die Summe stimmt? Wie steht es mit den Einnahmen aus den Häusern? Jaja, ich weiß, Tubb, die stehen alle im Buch, aber du hast ja wohl ein Gedächtnis, oder? Weißt du, wozu man sein Gedächtnis benutzen kann? Um Dinge in die richtige Reihenfolge zu bringen, wenn man eine Aufstellung macht. Also, schieß los. Streng deinen Kopf an. Wie viel hast du in der Greville Street 12 kassiert?«
    »Vierundsechzig Pfund, Mr Parrish.«
    »Gut. Du hast es begriffen. Dorset Place 52?«
    Mr Tubb nannte einen weiteren Betrag. Dann fragte er schüchtern: »Mr Parrish?«
    »Ja?«
    »Wozu machen wir das eigentlich?«
    »Damit du morgen noch einmal in die Greville Street 12 gehen und vierundsechzig Pfund kassieren kannst. Und ebenso am Dorset Place und in der Tackley Street und so weiter. Sonst würde Mr Lee Verlust machen und wir bekämen Ärger. Du brauchst nicht erst morgen hingehen, du kannst schon heute Abend anfangen. Also weiter, wie viel hast du in der Endell Street kassiert?«
     
    Soho gehörte damals zu den besonders dicht bevölkerten Vierteln Londons; es war schäbig, laut, voll intensiver Gerüche und galt als entschieden unfein. In seinen Gassen herrschte eine quirlige, weltoffene und fesselnde Atmosphäre.
    Die Ledertasche über der Schulter, ging Bill mit federnden Schritten durch die vor Menschen wimmelnden Straßen. Begierig sog er die Luft ein, die nach Knoblauch und Käse, gegrilltem Fleisch und Backfisch roch. In Soho bekam man das beste Essen von ganz London. Für drei Shilling konnte man hier ein Abendessen erstehen, von dem man anderswo nur träumen konnte. Bill war hungrig. Er blieb einmal kurz stehen und schaute in die Auslage eines jüdischen Bäckers. Er zählte die Münzen in seiner Hosentasche und stellte fest, dass es reichte. Mit den wenigen Pennys, die er noch hatte, ging er in den Laden und kaufte sich einen Schmalzkringel.
    Als er in die Dean Street kam, hatte er ihn bereits aufgegessen. Den Theaterzettel vor dem Royalty Theatre beachtete er ebenso wenig wie das Plakat der Gesellschaft für Wohlfahrt und Eintracht, in deren Räumen eine gewisse Mrs Letitia Mills einen Vortrag mit Lichtbildern über die Vorzüge der Askese zu halten beabsichtigte.
    Neben diesem Marktplatz des einfachen Lebensstils und der moralischen Erbauung befand sich eine

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