Der Tiger im Brunnen
von leicht untersetzter Gestalt. Seine Miene war freundlich.
»Wie heißen Sie?«, fragte ihn Sally.
»Cave, Madame, George Cave. Stimmt etwas nicht?«
Sie zögerte einen Augenblick. »Würden Sie bitte mal kurz mitkommen?«, bat sie ihn und ging einen Schritt zur Seite. »Ich habe ein paar Fragen an Sie.«
»Wie Sie wünschen, Madame«, erwiderte er.
Er setzte den Koffer ab und ging an ihr vorbei in den Flur. Mrs Perkins und Ellie rührten sich nicht vom Fleck.
»Hierhinein«, sagte Sally und zeigte auf das Frühstückszimmer.
Sie setzte sich an den Esstisch, während er friedlich an der Tür stehen blieb.
»Wer hat Sie hergeschickt?«
»Niemand, Madame. Ich arbeite auf eigene Rechnung. Ich versorge eine Anzahl Haushalte in der Stadt, auch ein paar Läden. Den Großteil meiner Kunden habe ich von Mr Pratt übernommen. Er schafft das nicht mehr, er ist ziemlich wackelig auf den Beinen.«
»In Dr. Talbots Haus kommen Sie aber nicht.«
»Wo ist das denn, Madame?«
»In der Hertford Street.«
»Das gehört zu Mr Pratts Revier. Er macht noch die Hertford Street und den Nelson Square. Ist ja nur ein Katzensprung von seinem Haus entfernt. Das ist kein Umstand für ihn. Mir ist das recht, ich habe auch so genug Arbeit. Die Stadt wächst ja ständig. Da ist dieses neue Hotel und – «
»Kennen Sie einen Mann namens Parrish?«
Er dachte nach.
»Soll der in Twickenham wohnen, Madame? Ich kann mich nämlich nicht an seinen Namen erinnern.«
»Nein.«
Sie blickte ihn durchdringend an und spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Er schien ehrlich verblüfft zu sein.
»Haben Sie die Dienstboten über mich ausgefragt?«
»Bestimmt nicht, Madame. Hat man mir vorgeworfen – «
»Ich weiß, dass Sie Fragen über dieses Haus und seine Bewohner gestellt haben. Mein Hausmädchen hat es mir gesagt.«
»Dann sprechen Sie lieber noch einmal mit ihr darüber. Ich bin nicht so neugierig, dass ich meine Nase in anderer Leute Angelegenheiten stecken müsste, wie Sie es gerade angedeutet haben. Ich bin ein ehrlicher Mann, immer schon gewesen, und viele Leute hier in der Stadt können das bestätigen. Ich muss auch nicht unbedingt in Ihr Haus kommen, mein Geschäft läuft auch so. Wenn Sie mir also etwas vorzuwerfen haben, dann sagen Sie es offen heraus. Sonst gehe ich nämlich auf der Stelle, und ihre Köchin kann sich, wenn sie wieder Messer zum Schleifen hat, einen anderen suchen.«
Sally wurde rot. Verlegen stand sie auf.
»Es tut mir leid, Mr Cave. Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Hier geht einiges drunter und drüber, und jemand scheint über alles, was in diesem Haus vorgeht, Bescheid zu wissen. Ich versuche nun herauszufinden – «
»Das reicht, Madame. Ich lege keinen Wert darauf, in ein Haus zu kommen, wo man mich für einen Spion hält. Ich habe Kundschaft genug.«
Und ohne Sallys weitere Erklärungen abzuwarten, drehte er sich um und ging. Kurz darauf hörte sie, wie die Hintertür zugeschlagen wurde.
Sally sank in sich zusammen. Alles an dieser Sache war hässlich; sie fühlte sich müde und matt.
Ellies Verlobter Sidney, Dr. Talbots Stallbursche, hatte sich an diesem Abend für acht Uhr mit ihr verabredet. Beide gingen gern ins Varieté und im Britannia lief ein neues Programm. Montag war zwar nicht gerade der beste Tag zum Ausgehen – das Theater war dann immer nur halb voll –, aber sie konnten im Warmen sitzen, sich die Hände halten und in der Pause eine kleine Erfrischung zu sich nehmen. Dr. Talbot war ein großzügiger Arbeitgeber – genauso wie Sally –, er hatte nichts Strenges an sich, im Gegensatz zu vielen anderen Herrschaften. Gerne gewährte er seinen Bediensteten einen freien Abend.
In der Pause erzählte Ellie Sidney die Sache mit dem Scherenschleifer. Sidney hatte zuvor schon von dem Einbrecher gehört und war ernstlich in Sorge gewesen. Er hatte von der Notwendigkeit gesprochen, einen Mann im Haus zu haben, und sogar sich selbst als Beschützer angeboten. Ellie konnte ihm das wieder ausreden. Aber Sidney ließ keinen Zweifel am schlechten Charakter des Scherenschleifers.
»Das ist ’n falscher Fuffziger«, sagte er. »Das riecht man zehn Meilen gegen den Wind. Raspeln Süßholz und spionieren dabei. Und haben auf alles eine Antwort. Die kenne ich.«
»Wenn er aber doch unschuldig ist?«, gab Ellie zu bedenken.
»Da irrste dich, mein Schatz. Ich hab zum Spaß mal die Protokolle von Aussagen vorm Polizeigericht gesammelt. Tatsache ist, dass ’ne ehrliche Haut vor
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