Der Tiger im Brunnen
glücklich zu machen. Als es Zeit zum Schlafengehen war, trug Sally sie nach oben und zog sie behutsam aus.
»Wir wecken sie jetzt nicht eigens auf, nur um sie zu waschen«, flüsterte sie Sarah-Jane zu. »Besser, sie schläft weiter. Morgen ist dafür noch genügend Zeit.«
Sie gab Harriet einen Kuss auf die Wange, strich ihr die blonden Locken aus der Stirn und legte sie in das kleine Bett neben dem ihren.
Am folgenden Morgen ging man zur Kirche. Sally wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte, obwohl sie immer mitging, wenn sie bei den Bedwells zu Besuch war, um nicht unhöflich zu sein. Es wäre nicht schlecht, wenn man an so etwas glauben könnte, aber andererseits machte man es sich damit zu einfach. Die Welt war nicht so simpel gestrickt. Sie schaute sich in der alten Kirche um, folgte den Umrissen der Kanzel, las die Inschriften an der Wand, versuchte herauszufinden, was die Gestalten der Glasmalereien darstellten, und hörte sich Nicholas’ Predigt an. Noch mehr Geschichten. Zwar schlief niemand ein, während Nicholas predigte, aber der Nachteil für ihn bestand darin, dass er seine Kanzel-Reden nicht jedes Jahr wiederholen konnte. Die Leute vergessen klar formulierte Argumente, aber sie vergessen keine Geschichten, daher würden sie sehr rasch protestieren, wenn sie die gleiche Geschichte zum zweiten Mal vorgesetzt bekämen.
Es folgte das Mittagessen und danach die große Abschiedszeremonie. Sallys Herz wurde schwer, denn erst jetzt ging ihr auf, warum sie hergekommen war. Aus demselben Grund hatte sie neulich das Frühstückszimmer aufgeräumt und alles, was sie an die Vergangenheit erinnerte, weggesperrt: Etwas an ihr, eine ganze private Welt, ging zu Ende.
Am Bahnhof umarmte sie Rosa noch einmal innig.
»Du kannst sie jederzeit zu uns bringen«, schlug ihr Rosa vor. »Du könntest auch selbst bleiben, wenn du möchtest.«
»Dafür ist es jetzt zu spät«, erwiderte Sally. »Ich kann mich nicht mehr verstecken. Es nimmt jetzt alles seinen Gang und wir müssen bereit sein. Am Mittwoch habe ich einen Termin bei diesem Kronanwalt. Wenn er wirklich so fähig ist, wie mein Anwalt behauptet, gewinnen wir den Prozess ja sowieso.«
»Ich meine es ernst«, beteuerte Rosa. »Wir machen sie zu unserem Mündel. Wir adoptieren sie, tun alles, um ihm Knüppel zwischen die Beine zu werfen.«
Sally lächelte. »Ich steige jetzt lieber ein«, sagte sie. »Der Bahnhofsvorsteher schaut schon ungeduldig herüber. Wenn Nick etwas über Mr Beech herausfinden sollte – «
»Er schreibt gerade Briefe an diverse Leute. Wir finden ihn schon. Aber jetzt steig ein – «
Sally ging ins Abteil zu Sarah-Jane und Harriet. Der Bahnhofsvorsteher gab das Zeichen zur Abfahrt und die Lokomotive zog an. Sally winkte Rosa noch lange, während der Zug im herbstlichen Sonnenschein davondampfte.
Der darauffolgende Montag war für Sally mehr als anstrengend. Sie musste zwei anspruchsvolle Klienten beraten und ein Haus in Islington besuchen.
Als sie am späten Abend nach Hause kam, fand sie Ellie in heller Aufregung.
»Miss – Miss«, flüsterte sie, kaum dass Sally durch die Tür gekommen war. »Er ist hier! Der Scherenschleifer!«
»Der Scherenschleifer …« Müde, wie sie war, konnte sich Sally im ersten Augenblick nicht erinnern. Dann fiel es ihr wieder ein und ihr Blick flammte auf. »Gut, wo ist er?«
»In der Küche, Miss – aber er ist fast fertig und packt schon seine Sachen ein. Ich gehe hin und versuche ihn noch ein Weilchen hinzuhalten – «
»Gut. Ich komme gleich.«
Sie legte Umhang und Hut ab und schritt im Halbdunkel unter der Flurtreppe bis zur Küchentür. Dort blieb sie stehen, die Hand auf der Klinke, und horchte. Sie hörte eine männliche Stimme, aber ohne ein Wort zu verstehen, und flüsterte Ellie zu: »Geh rein und bleib bei der Hintertür. Steckt da ein Schlüssel?«
Ellie nickte. Ihre Augen glänzten in der Dunkelheit.
»Schließ dann ab.«
Sie drückte auf die Klinke und trat ein. Ellie folgte ihr auf dem Fuß und eilte zur Hintertür. Mrs Perkins, die gerade einen Teig knetete, blickte überrascht auf, während Sally an der Tür stehen blieb und so den anderen Ausgang versperrte.
Der Mann, einen Koffer in der Hand, stand neben dem Küchentisch. Vor ihm lag eine Reihe sauberer, frisch geschliffener Messer. Verblüfft hielt er mitten im Satz inne, dann nahm er die Mütze ab.
»Guten Abend, Madame«, grüßte er Sally.
Der Mann war dunkelhaarig, trug einen Schnurrbart und war
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