Der Tiger im Brunnen
die Koffer und gingen mit Sarah-Jane zum Bahnhof, um den Zug nach Oxford zu nehmen. Das frische helle Herbstwetter erinnerte Sally an einen Tag vor neun Jahren, als sie mit Frederick nach Oxford gereist war, um demselben Mann, den sie jetzt besuchen wollte, Nicholas Bedwell, Nachrichten von seinem Zwillingsbruder zu bringen. Damals war Matthew Bedwell von dem Mann ermordet worden, den Sally später mit einem Schuss aus ihrer Pistole zur Strecke gebracht hatte. Die Intrige, in der sie jetzt steckte, war aber, wie es schien, das Werk von Juristen, so dass man derartige Gewaltexzesse ausschließen durfte. Und dennoch hatte sie, während sie in einer Droschke die High Street mit ihren schönen, im goldenen Herbstlicht glänzenden Häusern entlangfuhr, einen geladenen Revolver in der Handtasche …
Sie kamen rechtzeitig zum Mittagessen im Pfarrhaus an, wo sie von Harriets Cousine und Cousin, May und Matthew, sechs und vier Jahre alt, überschwänglich begrüßt wurden. Rosa war mit den Vorbereitungen für einen Festzug beschäftigt. Diese Aufgabe brachte sie dem Theater mittlerweile noch am nächsten, von einem Platz im Zuschauerraum einmal abgesehen.
Pfarrer Nicholas, ein kräftig gebauter Mann, dessen fröhliches Gesicht um die Augen herum immer noch ein paar Narben aus seiner Boxerzeit trug, begrüßte sie herzlich.
»Was für ein ausgemachter Blödsinn«, entrüstete er sich. »Rosa hat mir alles erzählt. Der Kerl ist ein Schuft, nichts weiter. Aber jetzt kommt erst einmal zum Mittagessen und heute Nachmittag machen wir einen Spaziergang. Mal sehen, ob wir ein paar Kastanien finden.«
Alle versammelten sich um den großen Esstisch. Die Kinder waren laut, aber das sah man ihnen dieses Mal nach, weil ihr Vater merkte, wie glücklich sie Sally damit machten.
Beim anschließenden Spaziergang im Wald, bei dem der Spaniel der Bedwells durch das Laub stöberte und die Kinder auf der Suche nach Kastanien hin- und herflitzten, berichtete Sally Rosa und ihrem Mann von der einstweiligen Verfügung und dem Brief aus St. Anselm.
»Ich habe von dieser Einrichtung schon gehört«, sagte Nicholas Bedwell. »Ich weiß gar nicht, warum ich nicht früher daran gedacht habe. St. Anselm ist ein Pflegeheim und wird von einem karitativen Verein betrieben, der sich um pflegebedürftige Geistliche kümmert, also gewöhnlich solche, die alt und gebrechlich sind. Hast du dem Leiter geschrieben?«
»Ja, postwendend. Aber ich glaube nicht, dass er mir weiterhelfen kann. Er hat deutlich gesagt, dass er nicht weiß, wo sich Mr Beech aufhält.«
»Ich habe Beech in Crockfords Klerikerverzeichnis gefunden. Er ist in den Fünfzigern – also noch nicht alt, aber vielleicht hat er irgendein Gebrechen. War als Missionar tätig, möglicherweise hat er sich Malaria oder etwas Ähnliches eingefangen.«
»Wo war er denn Missionar?«
»In China. Aber als jüngerer Mann. Ich nehme an, dass es Krankheiten gibt, die in Abständen immer wiederkommen … als seine letzte Adresse wird Portsmouth angegeben, doch mein Crockford ist nicht auf dem neuesten Stand. – Finden die Kinder keine Kastanien mehr? Dann sollte ich vielleicht diskret für Nachschub sorgen.«
Da er wusste, dass es nicht sehr viele Kastanien geben würde, hatte er eine Tasche voll mitgebracht und unbemerkt an den Stellen fallen lassen, wo die Kinder aller Voraussicht nach stöbern würden. Harriet hatte drei gefunden und strahlte vor Glück.
Während sie weitergingen, sprachen sie über das Herbstwetter, über die Kinder und wie rasch sie größer wurden, über die Schule, in die May und Matthew gehen würden, und über Rosas Festzug. Als die Kinder dann müde wurden, kehrten sie ins Pfarrhaus zurück.
Nebel kam auf und irgendwo wurde Laub verbrannt.
Sie brieten die Kastanien am Kamin und dann erzählte Nicholas allen eine Geschichte. Harriet, die auf Sallys Schoß saß, kuschelte sich an sie und lutschte am Daumen. Die beiden anderen Kinder saßen neben Rosa auf dem Sofa und lauschten mit großen Augen der Geschichte von der Prinzessin und dem armen Holzhacker. Alle erfuhren, was es hieß, mutig und furchtlos, geliebt und erfolgreich zu sein und Verantwortung zu tragen. Nicholas war ein ebenso guter Geschichtenerzähler wie Jim, wenngleich auch dessen Geschichten von anderem Kaliber waren.
Müde geworden, hörte Harriet schon bald nicht mehr zu. Die sanfte Stimme des Erzählers, der Platz auf Mamas Schoß und die warmen Arme, die sie hielten, reichten vollkommen aus, um sie
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