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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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an der Middle Temple Lane entlohnte und zum Pump Court eilte, wo Mr Coleman sein Anwaltsbüro hatte. Es war schon dunkel. Die Fenster, die auf den kleinen Hof hinausgingen, leuchteten gelb im Nebel. Sally war noch unschlüssig, welche Tür sie nehmen sollte, als plötzlich eine Gestalt aus dem Dunkel hervortrat und eiligen Schrittes auf sie zukam.
    »Miss Lockhart! Ich war schon in Sorge – «
    Es war Mr Adcock. Er war barhäuptig, seinen Hut hatte er offenbar innen liegengelassen, und machte einen nervösen Eindruck.
    »Ich komme doch noch rechtzeitig, oder? War unser Termin nicht auf halb sechs festgesetzt?«
    »So spät ist es fast schon. Es würde einen denkbar ungünstigen Eindruck machen, wenn wir unpünktlich kämen. Mr Coleman ist ein so beschäftigter Mann – «
    Mr Adcock öffnete ihr die Tür. Sie gelangten in einen Flur, wo ein Portier auf sie wartete. Er führte sie in ein geheiztes Büro. Drei Schreiber gingen hier unter hellem Gaslicht schweigend ihrer Arbeit nach, nur das kratzende Geräusch ihrer Stahlfedern war zu hören.
    Ein Angestellter führte sie durch ein weiteres Büro und klopfte dann diskret an eine Tür. Keine Antwort. Er öffnete sie behutsam und ließ die Besucher eintreten.
    »Mr Coleman wird gleich kommen«, sagte er mit gedämpfter Stimme, eine Stimme, die wie in Filzpantoffeln daherkam. »Wenn die Herrschaften hier warten wollen.«
    Sally trat ein und merkte in dem gut geheizten Raum, wie durchnässt sie war und welchen unordentlichen Eindruck sie machen musste. Ihre Stiefeletten hinterließen Pfützen auf dem gebohnerten Fußboden.
    Mr Adcock hatte seinen Hut zurückerhalten und drehte nervös die Krempe zwischen seinen Fingern hin und her.
    Der Angestellte zog sich zurück. Sally sah keinen Grund, warum sie sich nicht setzen sollte, also tat sie es.
    »Ich habe etwas über Mr Beech herausgefunden«, sagte sie. »Wollen Sie sich nicht auch setzen, Mr Adcock?«
    »Beech? Beech?«, sagte er, während er sich auf den anderen Stuhl gegenüber dem Schreibtisch setzte.
    »Der Geistliche, der den Eintrag im Heiratsregister unterschrieben hat«, sagte sie.
    »Ach ja, natürlich. Was haben Sie herausgefunden?«
    »Dass er eine Zeit lang Insasse in – «
    Weiter kam Sally nicht, denn die Tür ging auf und herein kam ein großer Mann in wehender Robe und warf einen dicken Packen Papier auf den Schreibtisch. Schwarze Haarsträhnen waren über einen kahlen Schädel gekämmt; dicke, rötlich schimmernde Koteletten wuchsen seine Wangen hinab. Die kräftige Nase, die vortretenden Augen und der breite, grobschlächtige Mund drückten unverhohlene Verachtung aus.
    Im Nu war Mr Adcock aufgesprungen, stand leicht nach vorn gebeugt da, die Hände wie zum Gebet aneinandergelegt.
    »Mr Coleman – Ihr Angestellter hat uns hergeführt – wir haben uns erlaubt, hier auf Sie zu warten – «
    Der Kronanwalt brummte nur etwas Unverständliches. Sally beachtete er überhaupt nicht, setzte sich und blätterte in seinen Papieren.
    »Nun?«, fragte er nach einer Weile, ohne aufzublicken.
    »Äh – meine Klientin, Miss Lockhart«, hob Mr Adcock an, »wünschte eine Unterredung mit Ihnen. Sie hatte das Gefühl, dass bei einer solchen Gelegenheit die eine oder andere Kleinigkeit geklärt werden könnte …«
    »Reine Zeitverschwendung«, antwortete Mr Coleman mürrisch.
    »Wie bitte?« Sally war bestürzt.
    Der Kronanwalt schaute sie an, als wäre er überrascht. Aus seinem Blick sprach blanker Hohn.
    »Ich sagte, reine Zeitverschwendung. Ich habe alle Unterlagen durchgesehen. Von einer Unterredung ist nichts Neues zu erwarten. Nun sind Sie aber hier.«
    Er vertiefte sich wieder in die Papiere vor ihm, las die nächste Seite und machte mit Bleistift eine Notiz. Sally konnte erkennen, dass es sich um einen wirtschaftlichen Fall handelte und nicht um ihren.
    »Ich wollte gerade Mr Adcock von einer Entdeckung berichten, die den Geistlichen betrifft, der – «
    »Dafür ist es zu spät. Sie können diesen Prozess nicht dadurch gewinnen, dass Sie irgendwelche Beweise aufklauben.«
    »Es könnte wichtig sein.«
    »Es wäre nur wichtig, wenn es von Belang wäre, aber das ist es nicht.«
    »Was wäre denn von Belang? Wie kann ich diesen Prozess gewinnen, Mr Coleman?«
    »Indem Sie sich nicht in die Arbeit Ihres Kronanwalts einmischen.«
    »Aha, ich verstehe. Wird er den Prozess dann allein gewinnen?«
    Ein zorniger Blick flog zu ihr herüber. Sie erwiderte ihn mit Verachtung. Mr Adcock neben ihr verging fast

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