Der Tiger im Brunnen
Gericht eben keine Story parat hat. ›Wo waren Sie in der Nacht zum 14. August?‹ Siehste, daran kannste dich nicht erinnern. Aber dein Ganove, der sagt dir alles fein her und macht dazu ’ne Miene, als könnte er kein Wässerchen trüben. Hat sich alles vorher hübsch zurechtgelegt. Nee, nee, diese ganze Geschichte über Mr Pratt, das ist alles Schwindel. Wer ist übrigens dieser Typ namens Tremble, von dem du neulich gesprochen hast?«
»Oh, Mr Molloy. Den nennen sie Trembler. Er hat früher für Mr Garland gearbeitet. Jetzt betreibt er eine Pension in Islington. Mrs Lockhart wollte heute bei ihm vorbeischauen …«
Es war nett, mit Sidney zu reden. Er wusste eine Menge, verstand aber auch zuzuhören. Darin unterschied er sich von anderen jungen Männern, die Ellie kannte und die sich selbst gern reden hörten. Gewiss, er war schon ein bisschen frech, aber das mochte sie bei Männern, damit zeigte er, dass er kein Spießer war. Und er konnte durchaus auch ernst sein. So war er von Anfang an auf Miss Lockharts Seite und verfolgte die Ereignisse mit echter Anteilnahme.
Als die Musiker wieder ihre Plätze einnahmen (nachdem sie sich, wie Sidney behauptete, den Bierschaum von den Schnurrbärten gewischt hatten), drückte er ihr die Hand.
»Da kannst du Gift drauf nehmen«, sagte er, »dass der Scherenschleifer hinter dieser Geschichte steckt. Gott sei Dank seid ihr ihn jetzt los. Dieses aalglatte Pack, das um keine Antwort verlegen ist, das sind die Gauner. Wir dagegen, die unbeholfenen, schüchternen, vergesslichen Typen, wir sind die Ehrlichen …«
Damit legte er ihr seinen Arm um die Schultern. Ellie lächelte.
»Jetzt vergisst du dich aber, Sidney«, mahnte sie ihn.
»Was habe ich dir gesagt? Das beweist doch nur, dass ich es ehrlich meine.«
Sie ließ seinen Arm liegen. Den zweiten Teil des Programms verbrachten sie in dieser Vertrautheit.
Der brillante Kronanwalt
Der Mittwochmorgen begann kalt und stürmisch. Sally hatte nicht gut geschlafen. Wie sollte sie auch? Immer, wenn sie nachts aufwachte, musste sie an die bevorstehende Begegnung mit dem Kronanwalt denken. Nun sah sie das graue Morgenlicht zwischen den Fenstervorhängen hereinblinzeln und hörte den Regen gegen die Fensterscheiben peitschen. Sie fiel in einen unruhigen Halbschlaf zurück, der aber nur wenige Minuten dauerte. Dann wurde sie von Ellie geweckt.
Auf ihrem Weg in die Stadt regnete es in Strömen und der Wind riss Zweige von den kahlen Baumkronen. Nass und durchgefroren kam Sally im Büro an. Hier wollte der Kamin zuerst nicht brennen, weil der Wind aus der falschen Richtung blies. Ihre von Asche und Kohle schmutzigen Hände konnte sie sich erst waschen, als das Wasser im Kessel endlich warm geworden war.
Der restliche Tag verlief kaum besser. Am Vormittag entdeckte Sally, dass sie in einem Brief an ihren Börsenmakler einen Fehler gemacht hatte – mit der Folge, dass das Geld ihres Kunden falsch angelegt wurde. Zum Glück ging es um keine große Summe und, was noch wichtiger war, aus der Fehlanlage entstand kein Verlust. Dennoch war das eine Fahrlässigkeit, die ihr nicht hätte passieren dürfen. Gerade solche Pannen konnte sich die Firma jetzt nicht leisten.
Schließlich hatte sie einen Geschäftspartner, dem gegenüber sie Verantwortung trug.
Mittags gönnte sie sich nur einen hastigen Imbiss – ein belegtes Brot, das ihr Mrs Perkins gemacht hatte, einen Apfel aus dem Garten, Kaffee aus der Kanne über dem launischen Kaminfeuer. Nebenher las sie die Finanzseite der Times und den wöchentlichen Financial Chronicle. Dabei stieß sie auf einen Namen, der ihr bekannt vorkam. Sie überflog den ganzen Artikel noch einmal, um sicherzugehen. Die Rede war von Daniel Goldberg. Sein Name tauchte in einem Leitartikel auf, dessen Verfasser die Regierung aufforderte, Härte zu beweisen. Ausländische Aufwiegler, die die britische Gastfreundschaft für ihre agitatorischen Zwecke missbrauchten, sollten umgehend des Landes verwiesen werden. Offenbar war Goldberg in sozialistischen Kreisen Europas kein Unbekannter. Zuerst hatte er Preußen und dann Brüssel verlassen müssen. Mit dem Ruf nach Ausweisung aus Großbritannien, so versicherte der Schreiber, solle jedoch keineswegs die Rede- und Gedankenfreiheit angetastet werden. Schließlich sei dieses Land hierin schon von alters her Vorbild für andere Völker gewesen usw.
Sally las das, ohne Partei für die eine oder die andere Seite zu ergreifen. Und das war bedenklich, denn
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