Der Tiger im Brunnen
sie zum Mittagessen einzuladen und sie auf ihr Verhalten anzusprechen.
Sie gingen in ein Steakhaus in der Watling Street, das sie von früheren Besuchen kannten. Frauen waren in der Londoner Innenstadt ein seltener Anblick. Man konnte zu Stoßzeiten an der verkehrsreichsten Kreuzung stehen und gut zehn Minuten lang ausschließlich Männer vorübergehen sehen. Sally und Margaret fühlten sich in ihrem Revier daher immer noch ein wenig wie Fremde. Es gab Gaststätten, wohin sie nur einmal und dann nie wieder gegangen waren. Doch in diesem kleinen Haus war man freundlich, die Sitzgruppen waren gemütlich und das Essen ausgezeichnet.
Margaret bestellte für beide gegrillte Lammkoteletts mit Gemüsebeilage. Als das Gericht kam, schaffte sie es, Sally zum Essen zu überreden.
»Was ist denn bloß los mit dir?«, fragte sie. »Ich kenne ja deine größte Sorge, aber bedrückt dich sonst noch etwas? Du bist doch gesund, hast einen scharfen Verstand. Du hast ausreichend Geld und dein Geschäftspartner Webster Garland ist ein begnadeter Fotograf. Mit einem Wort, dir geht es wirklich nicht schlecht. Nun iss doch das Kotelett. Und der Blumenkohl ist wirklich knackig. Alle kochen Blumenkohl viel zu lange, nur hier versteht man, ihn zum richtigen Zeitpunkt aus dem Wasser zu holen. Soße?«
Sally lächelte.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe mich davon zu sehr niederdrücken lassen. Aber es ist schwer für mich, an irgendetwas anderes zu denken …«
»Dann denke mal an Folgendes. Für heute Nachmittag hat sich diese nervtötende Mrs Carpenter angemeldet. Sie wird uns damit kommen, dass ihr Göttergatte darauf bestehe, in Gold zu investieren, Gold sei eine sichere Anlage, sie solle ihr Geld durch Beteiligungen an Goldminen unterbringen. Sie hat gut sechstausend Pfund und eine Lebensversicherung will sie auch noch … Was rätst du ihr also?«
Sally trank einen Schluck Wasser.
»Mir gefallen die Aktien dieser bolivianischen Eisenbahngesellschaft«, schlug sie vor. »Hickson hat sie mit Geschick an der Börse platziert.«
»Gerade über Hickson habe ich aber kürzlich etwas gelesen – oder habe ich es von Mr Battle gehört …« Mr Battle war Journalist und wie sie Mieter im selben Bürohaus, ein Stockwerk unter ihnen. Margaret trommelte auf der Tischplatte und versuchte sich zu erinnern. »Ach ja, Mr Battle hat mich auf einen Artikel in einer Zeitung, ich weiß nicht mehr, welcher, aufmerksam gemacht, in der Hickson scharf angegriffen wurde. Es sei die übliche Hetze, sagte Mr Battle, und der muss es ja wissen. Man bezichtigte Hickson, unter verschiedenen Namen Fabriken zu betreiben, in denen Arbeiter ausgebeutet werden. Ich weiß nicht, wie viel davon wahr ist; es scheint, als wolle man ihn diskreditieren, ohne wirkliche Beweise zu haben. Ich muss Mr Battle fragen, ob er den Artikel noch hat.«
»Warum hat er ihn dir überhaupt gezeigt?«
»Wir sprachen gerade über Sozialismus. Es war ein sozialistisches Blatt.«
»Oh«, sagte Sally. »Und was hältst du nun von Hickson?«
Margaret verzog das Gesicht. »Schwer zu sagen«, versetzte sie zögernd. »Ich weiß zwar, dass man auf solche Anschuldigungen nicht viel geben soll, aber …«
»Aber du meinst, es könnte doch etwas dran sein? Nun, vielleicht ist Hickson wirklich nicht der Richtige für Mrs Carpenter. Wie wäre es mit Chemie-Aktien? Die Deutschen machen auf diesem Gebiet derzeit außergewöhnliche Sachen …«
Sie sprachen über Mrs Carpenters Anlage, dann über die allgemeine Marktsituation und die Auswirkungen, die einige wirtschaftliche Maßnahmen der Regierung haben könnten. An solchen Gesprächen hatte Sally immer Vergnügen und bald glänzten ihre Augen, und ihre Wangen bekamen wieder etwas Farbe.
Margarets Medizin schlug so gut an, dass Sally nach dem Kotelett sogar noch einen Pudding zum Nachtisch aß. Dann schauten sie auf die Uhr und beeilten sich, zurück zum Bengal Court zu kommen, um Mrs Carpenter nicht zu verpassen.
Am folgenden Wochenende wollte Sally nach Oxford fahren. Rosa hatte sie eingeladen und Sally hatte das Gefühl, dass es ihr und Harriet gut tun würde. Sicherlich hatte das Kind etwas von Sallys Unruhe gespürt. Es kam bei Harriet nicht so offen zum Ausdruck, denn sie hatte ein robustes, fröhliches Wesen und neigte nicht zum Grübeln. Doch auch sie wachte nun mitten in der Nacht auf und zweimal hatte sie in der vorangegangenen Woche ins Bett genässt, was sie normalerweise nicht mehr tat.
Am Samstagmorgen packten sie
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