Der Tiger im Brunnen
Klienten, sonst wäre sie ebenfalls gekommen. Cicely hatte sich immer noch nicht mit dem neuen Bild ihrer Miss Lockhart abgefunden: die Mutter eines Kindes … Mechanisch griff sie nach dem letzten Stück Kuchen und bemühte sich, sie nicht länger anzustarren.
»Wo ist denn … Wo ist Ihr Kind … Wo ist Harriet jetzt?«
»Bei Freunden. Da sind wir für ein oder zwei Tage in Sicherheit. Bis dahin suche ich nach einer eigenen Wohnung für uns.«
»In London?«
»Wo sonst könnte ich untertauchen, wenn nicht in London? Ich habe seit Tagen über nichts anderes nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich richtigliege. Wenn ich ins Ausland ginge, würde ich nie herausfinden, was hinter dieser ganzen Intrige steckt – ich muss hier vor Ort bleiben und eigene Ermittlungen anstellen. Wenn ich irgendwo aufs Land ginge, würde ich doch auffallen wie ein bunter Hund. Aber in London schert sich keiner um seinen Nachbarn, da sind alle anonym und deshalb sind wir hier genau richtig. Ich bedauere nur, dass ich Miss Haddow eine solche Last aufbürde. Und dir ebenfalls. Ich bin dir ja so dankbar, Cicely …«
Miss Lockhart war wie ausgewechselt. Sie war nicht mehr niedergeschlagen; ihre Augen leuchteten, ihre Wangen hatten eine frische Farbe, es schien, als würde sie sich über alles freuen. Sie trank ihren Tee aus und verlangte die Rechnung.
»Sag Miss Haddow, dass ich ihr heute Abend noch schreibe. Ins Büro darf ich nicht kommen, da der Ort sicherlich überwacht wird. Aber ich werde ihr mitteilen, wo sie mich treffen kann. Ich muss mich in diese Sache hineinknien und habe keine Zeit mehr für das Geschäft, deshalb braucht Miss Haddow vielleicht eine Hilfe im Büro. Aber das erkläre ich ihr alles in meinem Brief. Danke für alles, Cicely, eigentlich gehört das nicht zu deinen Aufgaben …«
Sie ließ Cicely mit dem restlichen Kuchen allein, schlug den Pelzkragen ihres Mantels hoch und ging hinaus in den nasskalten Spätnachmittag.
Es dämmerte schon und in den Straßen herrschte lebhafter Verkehr. Sally wartete auf den Omnibus. Als er kam, fand sie unter den zahlreichen Fahrgästen noch Platz zwischen einer korpulenten Dame mit Muff und einem Herrn, der einen nassen Regenschirm vor sich hingelegt hatte. Im Kopf ging sie durch, was sie als Nächstes tun würde. Erst das Abendessen für Harriet richten, dann die Kleine ins Bett bringen und ihr erzählen, dass sie morgen wie Onkel Webster und Jim zu einem Abenteuer aufbrechen würden. Dann ihre Lieblingslieder singen und zum Schluss mit ihr ein Abendgebet sprechen.
Wenn Harriet dann eingeschlafen war, wollte Sally Mr und Mrs Molloy bitten, ihr Haus für sie als sicheren Unterschlupf einzurichten. Sie brauchte einen Ort, wohin sie sich bei Bedarf zurückziehen, wo sie sich mit Margaret treffen, wo sie Nachrichten von Sarah-Jane aus Twickenham erhalten konnte. Dann erst wollte sie selbst schlafen gehen. Eigentlich war sie nicht müde, aber sie wusste, dass sie den Schlaf nötig hatte.
Der Omnibus hielt an. Sie drängte zum Ausstieg und trat auf die Straße. Unterdessen war es dunkel geworden, die Straßenlaternen leuchteten wie große geisterhafte Dahlien im Abenddunst. Fußgänger, in Mäntel und dicke Schals gehüllt, hasteten mit gesenktem Kopf vorüber. Ein kleiner Fußgängerlotse hielt sich neben dem Unterstand der Droschkenkutscher bereit, für den Fall, dass jemand die Straße überqueren wollte. An der Ecke des Platzes, in den sie einbog, stand ein Maronen-Verkäufer einsam hinter seinem Ofen und pries nicht einmal seine Ware an, sondern wendete nur ab und zu die Maronen, wenn sie anzubrennen drohten.
Sally hatte selbst einmal für einige Zeit in diesem Viertel gewohnt, als Harriet noch nicht auf der Welt war; die Pension gehörte einem alten Freund, Trembler Molloy, der hier mit seiner Frau wohnte. Trembler hatte für Frederick gearbeitet, als Sally zum ersten Mal mit den Garlands zusammentraf. Später hatte seine Frau eine kleine Erbschaft gemacht und Sally hatte sie beim Kauf des Hauses und der Einrichtung des Pensionsbetriebs beraten.
Das Haus befand sich auf der gegenüberliegenden Seite eines baumbestandenen Gartens. Sie sah es erst, als sie bereits die Hälfte des Wegs zurückgelegt hatte. Unvermittelt blieb sie stehen.
Vor dem Haus wartete eine Droschke. Zwei Männer standen am Eingang, einer davon war ein Polizist.
Sally spürte einen Stich im Herzen. Hatte man sie bereits ausfindig gemacht? Sie kehrte um, zog sich in die Nähe des
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