Der Tiger im Brunnen
wie dieser eine Entschuldigung stammelte und wie ihm der Kronanwalt barsch den Mund verbot. Dann Fußgetrappel und eilige Schritte, die sie bis in die schmale Gasse zur Middle Temple Lane verfolgten.
Am Ende der Gasse blieb sie stehen und ließ ihn herankommen.
»Mr Coleman«, stieß er atemlos hervor, »ist einer der fähigsten, meistbewunderten Kronanwälte des Landes. Hätte ich geahnt, dass Sie sich ihm gegenüber ein solches Maß an Keckheit und Unverschämtheit erlauben würden, hätte ich mich nicht dazu verwendet …«
»›Keckheit und Sarkasmus‹ hat er gesagt«, fiel ihm Sally ins Wort. »Aber beides ist falsch. Wenn er nicht einmal wusste, dass ich eine Tochter habe, hätte er auch nicht behaupten müssen, alle Unterlagen gelesen zu haben.«
»Ein Detail – «
»Oh, sie ist nur ein Detail. Das ist die Sprache des Anwalts, der mit mir um meine Tochter kämpfen soll. Ich habe für heute genug von dieser Sprache. Mir reicht’s, Mr Adcock.«
Sally wandte sich ab, fühlte aber seine Hand auf ihrem Arm und hielt inne.
»Miss Lockhart, Mr Coleman hatte nur die Absicht, Ihnen eine realistische Vorstellung von der Anspannung und dem Druck zu geben, die sie morgen vor Gericht erwarten. Es war eine sehr nützliche Vorführung all jener Anklagen, mit denen die gegnerische Partei Sie mit Sicherheit konfrontieren wird. Wenn Sie sich erinnern, habe ich diesen Termin auf Ihr Drängen hin vereinbart. Mr Colemans Zeit ist so knapp bemessen …«
»Guten Abend«, sagte Sally, löste sich aus seinem Griff und ging davon.
Zwei Stunden später kam sie völlig durchnässt zu Hause an. Ein heißes Bad, ein belegtes Brot, einen Grog, mit Websters Whisky gemixt, ein paar Briefe, ein Gutenachtkuss für Harriet und dann ins Bett. Zum ersten Mal seit über einer Woche schlief sie gut. Sie war innerlich gefasst. Sie wusste nun, was sie zu tun hatte.
Das Sorgerecht
Cicely Corrigan saß auf der Zuschauerbank hinten im Gerichtssaal und versuchte zu verstehen, was sie hörte. Sie war fast allein. Nur ein dunkelhaariger Mann saß, eingehüllt in einen weiten grauen Mantel, am anderen Ende der Bank und kritzelte die ganze Zeit über etwas in ein kleines Notizbuch. Vielleicht war es ein Hunger leidender Dichter, der, weil er sonst kein warmes, trockenes Plätzchen hatte, seine Tage in Gerichtssälen verbrachte.
Der Prozess dauerte nicht lange. Da die Beklagte nicht erschienen war, stand der Ausgang von vorneherein fest. Sallys Kronanwalt machte nur einen halbherzigen Versuch, das Gericht davon zu überzeugen, dass seine Mandantin sich, von Reue und Bedauern überwältigt, vorgenommen habe, sich zu bessern. Dann beantragte er, das Gericht möge seine Entscheidung um sechs Monate verschieben, in dieser Zeit würde seine Mandantin eine gütliche Einigung versuchen. Doch Mr Parrishs Anwalt hielt dagegen, dass die Zeit hierfür längst vorüber sei. Im Übrigen habe Mr Parrish schon mehrere Male sowohl in eigener Person als auch durch seinen Anwalt eine Versöhnung mit der Beklagten versucht, jedoch immer nur Ablehnung und Verachtung geerntet. Details dazu und Briefe lägen zur Einsicht bereit, wenn das Gericht dies wünsche. Das Gericht wünschte es nicht. Mr Parrish betrachtete alles mit einem Ausdruck des Bedauerns.
Er machte, unvoreingenommen betrachtet, geradezu einen hochherzigen Eindruck.
Zwanzig Minuten nachdem das Verfahren eröffnet worden war, war es auch schon zu Ende. Die Auflösung dieser unsichtbaren Ehe konnte beginnen; das elterliche Sorgerecht über das Kind Harriet Rosa Parrish, bekannt als Harriet Rosa Lockhart, wurde dem Vater Arthur James Parrish zugesprochen. Sallys Anwälten wurde mitgeteilt, dass die Beklagte das Kind diesen Nachmittag bis spätestens fünf Uhr nachmittags in den Räumen von Mr Parrishs Kronanwalt zu übergeben habe; mittlerweile war es elf Uhr vormittags. Sollte sie dem nicht Folge leisten … Was dann geschehen würde, wurde näher erläutert, doch Sally wusste es und sie hatte es Cicely erklärt: Sie würde in Missachtung des Gerichts handeln und Gefahr laufen, verhaftet zu werden.
Die Würfel waren gefallen.
»Aber was wollen Sie jetzt machen?«
»Untertauchen«, sagte Sally. »Und dann nachweisen, dass seine Anschuldigungen falsch sind. Nimm doch noch ein Stück Kuchen.«
Sie saßen in einem Teesalon.
Sally war den ganzen Tag über anderswo beschäftigt gewesen und hatte sich für halb fünf hier mit Cicely verabredet. Margaret hatte einen Termin mit einem
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