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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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du meine Königin …
     
    Sie erinnerte sich daran, wie sie als Kind krank im Bett lag und ihr Vater geduldig im Dunkeln neben ihr saß und mit seiner Bassstimme diese alten Lieder sang, Geschichten erzählte und ihr so Geborgenheit schenkte. Ihre Mutter hatte sie nie gekannt. Er war ihr Vater und Mutter zugleich, so wie sie ihrem Kind Mutter und Vater sein musste.
    Harriet war nun eingeschlafen. Sally deckte sie gut zu und schlich sich auf Zehenspitzen ins Nebenzimmer.
    Das Feuer war fast heruntergebrannt. Sie kniete sich davor und fachte es mit Papier, ein paar Holzscheiten und neuer Kohle wieder an. Als es wieder kräftig loderte, stand sie auf und betrachtete ihre Hände. Zum Waschen war kein Wasser mehr im Zimmer, sie hätte wieder eine Etage tiefer gehen müssen. So wischte sie sich die Finger am Rock ab, setzte sich niedergeschlagen an den Tisch und versuchte sich mit dem Handrücken die Haare aus der Stirn zu streichen.
    Dann holte sie einmal tief Luft und atmete langsam aus. Sie zog die Kerze näher an sich heran, holte ein kleines Heft und einen Bleistift aus der Reisetasche und begann zu schreiben.
     
    25. Oktober 1881
     
    Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß ja kaum, wie ich sie waschen und was ich ihr zu essen geben soll, geschweige denn, wie es überhaupt mit uns weitergehen soll, aber andere Frauen schaffen es schließlich auch. Ich bin so daran gewöhnt, dass Sarah-Jane alles für mich macht (Nota: ihr Geld für einen Monat schicken – bis dahin sollte doch alles vorüber sein?), und hätte nie geglaubt, wie viel das ist und woran man alles denken muss.
    Was ist als Nächstes zu tun?
    Wir haben etwas mehr als zehn Pfund in bar. Ich muss morgen zur Bank, Geld abheben und ein neues Konto auf einen anderen Namen eröffnen. Und einen Ehering muss ich auch besorgen. Tragen Witwen ihn an der anderen Hand? Wen könnte ich fragen? Warum weiß ich das eigentlich nicht? Ich denke, wir werden zurechtkommen – wir finden schon noch etwas Besseres als das hier –, aber ich darf auf keinen Fall direkt mit Orchard House, den Molloys, dem Fotoatelier, dem Büro oder sonst jemand Bekanntem in Verbindung treten. Briefe ausgenommen.
    Muss ich so den Rest meines Lebens verbringen?
    Vor allem kein Kontakt zu meinem Anwalt. Wird er gegen das Urteil Berufung einlegen? Geht das überhaupt? Ich könnte ihm immerhin schreiben. Aber ich glaube, in dieser Hinsicht habe ich mir sämtliche Wege verbaut.
    Da ich nicht beweisen kann, dass H. nicht seine Tochter ist, muss ich herausfinden, warum er das macht und was dahintersteckt. Was hinter ihm steckt. So viel wie möglich in Erfahrung bringen. Wenn ich ihm irgendetwas Kriminelles nachweisen könnte, bekäme er das Sorgerecht nie.
    Und dann ist da noch dieser Geistliche. Mr Beech (Nota: Rosa die neue Adresse mitteilen, sobald wir in Sicherheit sind). Das ist seine Schwachstelle, die Fälschung im Heiratsregister. Wenn ich wüsste, warum -
     
    Sie brach ab, Harriet schien unruhig zu werden, doch das Kind hatte nur im Schlaf vor sich hin gebrummelt. Sally legte Kohlen nach und setzte sich wieder.
     
    dann wüsste ich auch, wie ich ihn schlagen könnte. Das ist meine einzige Chance.
     
    Etwas früher am selben Abend hatte es Ellie an der Tür von Orchard House klingeln hören. Sie blickte von der Patience auf, die sie sich auf dem Küchentisch gelegt hatte, und sagte: »Wer kann das wohl sein?«
    »Du wirst es nie wissen, wenn du nicht nachschauen gehst«, versetzte Mrs Perkins, die im Schaukelstuhl über ihrer Zeitung gedöst hatte.
    Ellie erhob sich. Ihr war nicht wohl dabei. Sie hatte ein unangenehmes Gespräch mit der Polizei hinter sich, ebenso wie Sarah-Jane Russell. Sie befürchtete schon, irgendjemandem zu viel über Sallys Verbleib gesagt zu haben. Vielleicht wollte ihr der Sergeant noch mehr Fragen stellen oder vielleicht kam er jetzt mit einem Durchsuchungsbefehl.
    Aber es war kein Polizist. Es war ein junger Mann mit dunklem Haar und einem abgewetzten Mantel. Zuerst hielt sie ihn für einen Landstreicher, vor allem, weil er mit einem merkwürdigen Akzent sprach, doch dann zeigte er sich als ein sehr höflicher Mensch.
    »Ich versuche Miss Lockhart ausfindig zu machen«, sagte er. »Ist sie vielleicht zu Hause?«
    »Nein, Sir«, antwortete Ellie. »Ich weiß auch nicht, wo sie ist.«
    »An wen habe ich mich zu wenden, wenn sie selbst nicht zu sprechen ist?«
    Ellie hörte Sarah-Jane hinter sich und drehte sich um.
    »Darf ich Sie um Ihren Namen bitten?«,

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