Der Tiger im Brunnen
war sogar bereit, Sally die für eine Woche im Voraus gezahlte Miete zu erstatten, nur um sie rasch aus dem Haus zu haben. Sally sollte gleich nach dem Frühstück ihre Koffer packen und gehen.
Nach der überstandenen Auseinandersetzung (die übrigens beiderseits ohne Geschrei in kalter, grimmiger Höflichkeit abgelaufen war) fühlte sich Sally fast erleichtert. Kismet, dachte sie. Das Schicksal wollte es so. Im Übrigen hat es uns hier von Anfang an nicht gefallen.
»Wir suchen uns heute ein anderes Haus«, sagte sie zu Harriet. »Und dann schreibe ich Sarah-Jane, sie soll zu uns kommen und bei uns wohnen, ja?«
»Und Baldwin.«
»Oh, natürlich, Baldwin ebenfalls. Wir schreiben Mrs Molloy, sie soll Baldwin dem Postboten mitgeben. Aber jetzt iss auf. Dann packen wir unsere Sachen zusammen und gehen. Wir haben diesmal den ganzen Tag Zeit.«
Eine Dreiviertelstunde später, nach einem letzten frostigen Wortwechsel mit der Wirtin, standen Sally und Harriet auf dem Strand. Es nieselte zwar nicht, aber dennoch war es nasskalt und die Luft so feucht, dass der Pelz von Sallys Muff beschlug, noch ehe sie Villiers Street verlassen hatten.
Als Erstes wollte sie zu ihrer Bank gehen, die nur ein paar hundert Schritte entfernt lag. In der einen Hand die Taschen, mit der anderen Hand Harriet haltend, bahnte sie sich einen Weg durch die Menschenmassen – Zeitungsjungen, Schuhputzer, Angestellte auf dem Weg ins Büro, Damen beim Einkaufen, Dienstleute, die Bestellungen ausführten, Botenjungen, die sich in der Menge bewegten wie Fische im Wasser –, immer in dem Bewusstsein, dass Arthur Parrishs Büro hier ganz in der Nähe war und sie keinesfalls erkannt werden durfte.
Sie sagte sich, das sei lächerlich, auf einer belebten Straße wie dem Strand sei sie so sicher wie nirgendwo sonst auf der Welt. Und doch war sie nervös; zudem befürchtete sie, mit ihren schweren Taschen Misstrauen zu erregen.
Sie kamen vor dem Bankgebäude an und traten ein. Sally setzte Harriet auf einen Stuhl neben das Gepäck.
»Bleib hier bei den Sachen«, sagte sie. »Mama holt jetzt Geld.«
Sie hatte zweihundert Pfund auf ihrem Konto. Wenn sie alles abhob und bei einer anderen Bank unter anderem Namen ein neues Konto einrichtete, würde sie davon ein Haus oder eine Wohnung für ein Jahr mieten und ganz behaglich leben können. Ihr war zwar nicht ganz wohl bei dem Gedanken, so viel Bargeld mit sich herumzutragen, aber sie brauchte nicht weit zu gehen, Banken gab es hier gleich in der Nähe. Wenn sie Schecks benutzte, konnte man ihr auf die Spur kommen. Mit Bargeld bestand dieses Risiko nicht.
Sie ging an die Kasse und erklärte, was sie wollte. Sally war gerade dabei, einen Scheck auszustellen, als sie den Gesichtsausdruck des Kassierers bemerkte.
»Würden Sie mich bitte einen Augenblick entschuldigen, Miss Lockhart«, sagte er und stand auf. »Ich muss kurz Rücksprache mit dem Geschäftsführer halten.«
Mit einem seltsamen Blick auf Sally verließ er die Kasse und verschwand in einem der rückwärtigen Büros. Bei Sally läuteten sämtliche Alarmglocken. Sie schaute sich um; Harriet beschäftigte sich damit, die gedrechselten Verzierungen am Tisch neben ihr zu zählen. Der Portier, in prächtiger Uniform, stand gutmütig lächelnd da und lüftete die Mütze, als er einer Dame die Tür öffnete. Würde er ihr den Weg versperren, wenn sie mit Harriet eilig den Raum verlassen müsste?
»Miss Lockhart?«
Der Geschäftsführer stand hinter dem Tresen, neben ihm der verlegen dreinblickende Kassierer. Er war ein Mann mittleren Alters mit Stirnglatze und einem herablassenden Lächeln. Sally hatte insgesamt nur zweimal mit ihm gesprochen, beide Male nicht in diesem Jahr.
»Ich möchte Geld von meinem Konto abheben«, sagte Sally. »Stimmt irgendetwas nicht?«
»Ich glaube, das sollten wir vertraulich besprechen«, sagte er. »Würden Sie so freundlich sein und mir in mein Büro folgen?«
Das ist kein gutes Zeichen, dachte Sally sofort. Er wird mir irgendetwas Unangenehmes eröffnen. Der Kassierer wechselte einen Blick mit dem Geschäftsführer, ging zu dem Portier hinüber und sprach mit ihm, als würde er ihm einen Witz erzählen.
Sie nahm Harriet auf den Arm und folgte dem Geschäftsführer durch die Tür am Ende der Schalterhalle. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, ehe er das Gespräch begann. Sally saß ihm gegenüber, Harriet auf dem Schoß, und fühlte sich verunsichert.
»Was ist denn los, Mr Emes? Warum komme ich nicht
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