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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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ohne dabei die Kekstüte aus der Hand zu geben. Sie war mit Hut, Mantel, Handschuhen und Stiefeln so dick angezogen, dass sie kaum watscheln konnte. Sally hob sie hoch und setzte sich dann mit einer Hand ihren Hut auf. Anschließend griff sie nach ihrem Muff und warf sich mit Schwung die Kordel um den Hals.
    »Ich habe sie aufs Töpfchen gesetzt und dann frisch gewickelt«, flüsterte Mrs Molloy Sally zu. »Darum brauchen Sie sich also in nächster Zeit nicht zu kümmern. Hier, dass ich es nicht vergesse – hier sind frische Windeln und Waschzeug ist auch dabei, bitte …«
    Sie nahm eine große Leinentasche und übergab sie ihrem Mann, der gerade wieder in der Tür erschien. Sally wollte ihnen noch so vieles sagen, doch dafür war jetzt keine Zeit mehr.
    »Vielen Dank«, brachte sie gerade noch hervor. »Ich weiß nicht, was ich ohne Sie gemacht hätte … Auf Wiedersehn.«
    Harriet lugte königlich unter dem Rand ihres Pelzhutes hervor und verstand, was nun kommen würde. Sie wechselte die Kekstüte von der rechten in die linke Hand und begann zu winken. Dann trugen Sally und Mr Molloy die Tasche zur Kutsche und setzten Harriet ans Fenster.
    »Wo soll’s hingegen, Madame?«, fragte der Kutscher.
    »Oh, äh – Charing Cross«, sagte Sally.
    Sie zog den Wagenschlag zu und nahm Harriet auf den Schoß. Der Kutscher löste die Bremsen, trieb sanft sein Pferd an und dann setzte sich die Kutsche in Bewegung. Sally beugte sich vor, blickte zurück und winkte, bis die Kutsche um die Ecke bog und das warme Licht des Hauseingangs verschwand.

 
     
     
Buch zwei

 
Villiers Street
     
     
    Sie fand eine Unterkunft in der Villiers Street, einer engen Gasse in der Nähe des Bahnhofs Charing Cross. Die Pensionswirtin war eine Deutsche; sie stellte keine Fragen zu Sallys Verhältnissen und war nur am Geld interessiert. Sally zahlte zwanzig Shilling im Voraus für ein Schlaf- und ein kleines Empfangszimmer. Kohlen und Kerzen waren nicht inbegriffen, also zahlte Sally auch dafür; Wäsche musste zum Waschen außer Haus gegeben werden; Mahlzeiten gab es nur auf Wunsch. Sally gab gleich eine Bestellung auf.
    »Ihren Namen bitte«, sagte die Wirtin, nachdem alle Punkte, über die sie sich mit Sally geeinigt hatte, aufgeschrieben waren. Sie standen im kalten, nur schwach erleuchteten Flur, während Harriet, die immer noch die Kekstüte hielt, sie argwöhnisch beobachtete.
    »Mrs Marchbanks«, sagte Sally, einem Einfall folgend. Die linke Hand behielt sie in ihrem Muff: Sie musste sich einen Ehering besorgen. Was trugen eigentlich Witwen? Sie musste sich als Witwe ausgeben, möglichst unverdächtig erscheinen. Es gab so vieles, was zu beachten war.
    »Macht sich die Kleine nachts noch nass?«, fragte die Wirtin.
    »Oh – nein. Das heißt, gewöhnlich nicht. Manchmal schon.«
    »Dann gebe ich Ihnen ein Wachstuch als Unterlage. Legen Sie es bitte auf die Matratze. Kommen Sie, hier entlang.«
    Die Reisetasche unter dem Arm, die Leinentasche mit Harriets Sachen in der Hand, Harriet auf dem anderen Arm – so folgte Sally der Wirtin die schmale Treppe hinauf in den zweiten Stock. Die Wirtin stellte die Lampe, die sie getragen hatte, auf ein Fensterbrett und suchte einen Schlüssel aus dem Bund, um damit die nächste Tür aufzuschließen.
    »Hier ist es«, sagte sie. »Ich hole Ihnen jetzt das Wachstuch. Bitte denken Sie daran.«
    Sally trat in das kleine kalte Empfangszimmer und setzte Harriet auf ein Sofa.
    »Es gibt nur ein Bett«, sagte die Wirtin. »Die Kleine muss bei Ihnen schlafen. Ich hole Kerzen und etwas zum Anzünden. Warten Sie bitte.«
    Sie verschwand. Sally setzte die Reisetasche ab und ging zum Fenster. Die Villiers Street glänzte feucht im Schein der Straßenlaternen und im Licht, das aus dem Eingang eines Gasthauses nebenan kam. Von rechts drang der Lärm des Strand herüber: ratternde Räder, Hufgetrappel und das Schreien zweier rivalisierender Zeitungsverkäufer, die vor dem Bahnhof ihren Stand hatten. Hier war es lauter als in Islington, ganz zu schweigen von der fast völligen Stille in Orchard House.
    »Mama«, sagte Harriet. »Dunkel.«
    Sally wandte sich um, setzte sich und nahm das Kind auf den Schoß. Sie nahm Harriet den Pelzhut ab und strich ihr das blonde, gelockte Haar glatt, das fast ebenso dicht war wie das ihres Vaters.
    »Ja, hier ist es dunkel, aber die Frau bringt uns gleich Kerzen und dann machen wir Licht. Außerdem bekommen wir Feuer im Kamin, um uns zu wärmen, und Kekse können wir auch essen.

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