Der Tiger im Brunnen
auf und drückte das Gesicht gegen Sallys Schenkel.
Sally zog ihr das nasse Nachthemd aus und machte sie mit dem Schwamm sauber. Dann wickelte sie sie in ein Handtuch und ging auf die Suche nach frischer Wäsche. Sie hatten tags zuvor jedoch so hastig aufbrechen müssen, dass sie keine Strümpfe für Harriet eingepackt hatte.
»Du musst die von gestern anziehen«, sagte sie. »Wir kaufen heute neue. Mama muss auch ihre alten anziehen. So, nun steh auf …«
Bis sie das Kind dazu gebracht hatte, in die Kleider zu schlüpfen, war das Feuer ausgegangen, und es gab kein Papier mehr, um es wieder anzuzünden.
»O Hattie, das ist alles nicht so einfach«, seufzte Sally und setzte Harriet in den Sessel.
Das Kind schaute sie an mit verschlafenen Augen, die es anschließend wie aus Verachtung schloss, und kuschelte sich dann, so gut es ging, in das kalte Lederpolster.
»Du bleibst jetzt eine Weile hier«, sagte Sally. »Mama zieht sich an und dann … dann frühstücken wir.«
Sie wischte das Wachstuch mit dem abgezogenen Laken trocken und zog sich an. Sie wollte noch einmal hinuntergehen und Wasser holen, dabei aber nicht noch einmal im Morgenrock irgendwelchen Herren begegnen. Sie brauchten unbedingt einen Ort, wo sie ungestört waren.
Und Sauberkeit. Bis sie etwas gefunden hatten, wo sie sich mehr zu Hause fühlten, musste sie ein Paar Strümpfe für sich und Harriet kaufen. Und Unterwäsche auch. Nach dem Frühstück wollte sie gleich eine Liste machen.
Sie zog sich an, holte Wasser, zog sich wieder aus, wusch sich, zog sich wieder an und fühlte sich schließlich etwas besser. Die Uhr zeigte acht, draußen war es nasskalt und neblig. Vom Strand dröhnte Verkehrslärm herüber. Sie hob Harriet auf das Fensterbrett, drückte sie an sich und zeigte ihr, was vom Fenster aus zu sehen war.
»Horch!«, sagte sie. »Hörst du den Zug?«
Eine Lokomotive pfiff irgendwo hinter der schwarzen Mauer des Bahnhofs Charing Cross auf der anderen Straßenseite. Harriet zeigte auf die Straße hinunter.
»Tommy!«, rief sie.
Ein Mann mit einem Milchwagen goss Milch in zwei große Krüge, die ihm ein Dienstmädchen hinhielt. Sein Pferd stand brav daneben und nickte mit dem Kopf.
»Nein, das ist nicht Tommy, aber er sieht so ähnlich aus«, musste Sally zugeben. »Das hier ist ein anderer Milchmann. Der Milchmann von Charing Cross.«
Vom Fenster aus gab es vieles zu sehen: einen Fußgängerlotsen, einen Zeitungsverkäufer und viele Droschken; Harriet mochte die zweirädrigen am liebsten, weil sie mit elegantem Schwung daherkamen; ferner ein Polizist, groß und dick wie aus dem Bilderbuch, zwei Spatzen und eine Taube, dann eine Dame mit einem kleinen schwarzen Hund, der ständig an der Leine zerrte und Harriet zum Lachen brachte. Wenn sie die Gesichter ans Fensterglas drückten, konnten sie gerade noch den Strand erkennen und die Reklameschriften auf den vorbeifahrenden Omnibussen lesen. Wenigstens glaubte Harriet, sie könnte sie lesen; sie schaute sie an und bewegte die Lippen, während Sally laut vorlas.
Um halb neun klopfte es an der Tür und herein kam die Wirtin mit einem Tablett Tee, Toast, Butter und Konfitüre. Harriet, die immer noch nicht so recht wusste, wo sie sich befanden und wer die Frau war, mochte kein Stirnrunzeln und keinen Streit. So blieb sie still sitzen und beobachtete argwöhnisch, wie Sally die Sache mit dem nassen Bettlaken erklärte und dann nach Papier und Holz zum Feuermachen fragte.
Dann gingen die Frauen nach nebenan ins Schlafzimmer. Harriet sah sich das Tablett an. Die Toastscheiben waren sehr dünn. Ob dünne Scheiben wohl genauso schmeckten wie dicke? Dann kamen Mama und die Dame wieder herein. Mama machte ein zorniges Gesicht, und die Dame, die das nass gewordene Bettlaken nun trug, schien ebenfalls verärgert. Bestimmt waren sie böse auf sie, dachte Harriet und bekam Angst.
Doch dann ging die Dame aus dem Zimmer und Mama kam und küsste sie.
Sie aßen von den dünnen Toastscheiben. Es war kein Unterschied auszumachen, aber Konfitüre und Milch schmeckten anders.
Was war nebenan geschehen? Die Wirtin sagte, gegen Sally lägen Beschwerden vor. So habe sie sich mehreren im Haus wohnenden Herren in unschicklicher Kleidung gezeigt. Ein solches Verhalten sei nicht hinzunehmen, sie habe die Wohnung noch am selben Tag zu verlassen.
Sallys Proteste hatten die Sache nicht besser gemacht. Die Wirtin ließ sich nicht umstimmen und war durch nichts von ihrem einmal gefassten Urteil abzubringen. Sie
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