Der Tiger im Brunnen
Nachbargrundstücks zurück und lugte durch den Zaun.
Mrs Molloys Gestalt zeichnete sich im erleuchteten Hauseingang ab. Sie schaute auf etwas, das der Polizist ihr hinhielt, und schüttelte den Kopf. Der andere Mann nahm eine Stufe und schien auf sie einzureden, doch Mrs Molloy schüttelte wieder den Kopf. Sally verstand nicht, was sie sagten, weil der Lärm von der Straße und das ständige Tropfen von den Bäumen alles überdeckte. Es kam ihr vor, als schaue sie drei Figuren in einer Guckkastenbühne zu.
O bitte, lass sie nicht rein, sagte Sally zu sich selbst …
Dann machten die beiden Männer kehrt. Der Polizist wandte sich noch einmal um und sagte etwas. Als die Männer in die Droschke stiegen, schlug Mrs Molloy die Tür so laut zu, dass man den Knall bis zu Sallys Versteck hören konnte.
Der Kutscher ließ die Zügel klatschen, die Droschke fuhr vom Bordstein weg und kam auf sie zu. Sally zog sich noch weiter zurück und verbarg ihr Gesicht im hochgeschlagenen Mantelkragen, wohl wissend, dass sich über ihr ein erleuchtetes Küchenfenster befand.
Sobald die Kutsche um die Ecke gebogen war, stürmte sie aus ihrem Versteck, geriet auf dem nassen Pflaster ins Rutschen, suchte am Gitter des Zauns Halt und eilte dann die Stufen zum Hauseingang hinauf. Dort hämmerte sie an die Tür der molloyschen Pension.
»Ich bin’s!«, rief sie durch den Briefkastenschlitz. »Mrs Molloy, ich bin’s, Sally!«
Sie hörte die Schritte der Pensionswirtin. Einen Augenblick später ging die Tür auf und Sally stürzte in den schmalen Flur.
»Ist sie in Sicherheit? Ist sie noch hier?«
»Gütiger Gott, Miss, für wen halten Sie mich?«, sagte Mrs Molloy. »Keine Angst, ich hätte die Männer nicht reingelassen. Aber der eine sagte, sie würden in einer halben Stunde mit einem Hausdurchsuchungsbefehl wiederkommen. Am besten – «
»In einer halben Stunde? Dann muss ich hier weg. Ich nehme Harriet gleich mit. Könnten Sie mir helfen – könnten Sie sie warm anziehen? Ich suche ein paar Sachen zusammen und packe alles in eine Reisetasche. Vielleicht könnte Mr Molloy eine Droschke bestellen?«
»Aber wohin wollen Sie denn gehen, Miss?«
»Ich weiß es nicht. Irgendwohin. Ich denke darüber nach, wenn wir erst einmal in der Droschke sitzen. Bitte, Mrs Molloy – wenn sie nun schon früher kommen – «
Die beherzte Frau nickte zum Zeichen ihres Einverständnisses, doch ihre Miene war voller Zweifel. Sally eilte in ihr Zimmer im ersten Stock, griff nach der Reisetasche, die sie aus Orchard House mitgebracht hatte, warf ein paar Kleidungsstücke, Waschzeug und Schuhe hinein, ferner ihren Schreibkasten aus dem Nachttischchen und zum Schluss ein kleines, in Öltuch gewickeltes Paket, das schwer in das weiche Kleiderbündel fiel. Es war der Revolver.
Sie schaute sich im Zimmer um. Viel hatte sie ja nicht mitgebracht. Ihre Geldbörse – hier war sie, ihr Scheckheft, ihre Schlüssel.
Die Reisetasche in der Hand, eilte sie nach unten und traf dort auf Mr Molloy, der, mit Schal und Melone, gerade durch die Tür kam.
»Die Kutsche wartet auf Sie, Miss«, sagte er. »Für eine offene zweirädrige Droschke ist es doch etwas frisch, und wenn Sie eine längere Strecke zurücklegen …«
»Vielen Dank«, sagte Sally. »Ist Harriet – «
»Meine Frau kümmert sich gerade um sie. Für die Kleine ist es ein Abenteuer. Oder vielleicht nicht einmal das, Kinder nehmen ja vieles als selbstverständlich hin, weil sie nicht recht wissen, was normal ist und was nicht. Nichts kann sie überraschen. Wohin wollen Sie, Miss?«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es selbst nicht. Aber ich schreibe Ihnen, sobald ich kann, und gebe Ihnen Bescheid.«
»Seien Sie unbesorgt, Miss, wir verraten Sie nicht. Sie können gerne auch hierbleiben.«
»Wenn die Beamten mit einem Durchsuchungsbefehl wiederkommen, würden sie uns früher oder später finden …«
Eine Tür ging auf, und herein kam eine kleine putzige Gestalt, gefolgt von Mrs Molloy, bewaffnet mit einer großen Papiertüte.
»Mama«, sagte Harriet und fügte dann, als ihre Mutter sich zu ihr hinabbeugte und sie in die Arme nahm, deutlich leiser hinzu: »Backback. Guck.«
Ungeduldig löste sie sich aus der Umarmung und griff nach der Tüte.
»Da sind frisch gebackene Kekse drin«, sagte Mrs Molloy. »Man weiß ja nie.«
»Erlauben Sie, dass ich Ihnen die Tasche trage«, bot ihr Ehemann an.
Mrs Molloy bückte sich, um Harriet einen Kuss zu geben. Diese erwiderte den Kuss geistesabwesend,
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