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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Sollen wir?«
    »Alle Kekse.«
    »Ein paar heben wir für morgen auf. Und dann bringen wir dich ins Bett.«
    »Alle Kekse.«
    »Na ja, wir werden sehen. Schau, da kommt das Feuer …«
    Harriet reckte den Hals, um den schlaksigen Jungen sehen zu können, der mit einem Kohlenkasten und einem Eimer voll glühender Kohlen hereinkam und die Feuerstelle herrichtete. Ohne Sally oder Harriet zu beachten, holte er eine Kerze aus der Jackentasche, setzte sie in den Kerzenhalter auf dem Kaminsims und zündete ein Streichholz an. Er schürte die glühenden Kohlen unter die übrigen und verließ das Zimmer ebenso wortlos, wie er gekommen war.
    »Hoffentlich geht das Feuer an«, sagte Sally. »Ich habe keine Streichhölzer. Er hätte Holz zum Anmachen mitbringen sollen.«
    Sie stand auf und schürte noch einmal die Kohlen. Im Kerzenschein sah das Zimmer etwas freundlicher aus, wenn auch nicht viel. Harriet ließ sich in das Sofapolster sinken und zog einen Handschuh aus, um einen Daumen zum Lutschen frei zu haben.
    »Müde, Hattie?«, fragte Sally.
    »Mmm.«
    »Schlaf noch nicht ein. Warte, bis wir dich ausgezogen und ins Bett gebracht haben. Wird nicht lange dauern.«
    Im selben Augenblick kam die Wirtin mit weiteren Kerzen, einem steifen Wachstuch und einem Bündel Holz. Auf Sallys Bitte brachte sie Milch für Harriet und Tee, Brot und Käse für Sally. Fünf Minuten später brannte das Feuer munter, die Kerzen verbreiteten einen warmen Schein, die Vorhänge waren zugezogen und die Tür war geschlossen.
    Während Harriet, mit Milch und Keksen versorgt, am Tisch saß, nahm Sally eine Kerze und ging ins Schlafzimmer nebenan. Es war kühl und das Bett schien nicht gelüftet worden zu sein; es roch muffig. Sally zog Decken und Laken ab und trug sie zum Wärmen vor den Kamin. Dann entfaltete sie das steife, knisternde Wachstuch und legte es über die Matratze.
    »Du musst dich mit dem Großwerden beeilen, Hattie«, flüsterte sie.
    Unter dem Bett stand ein Nachttopf, Bad und Wasserklosett befanden sich eine Etage tiefer. Sally stellte den Krug vom Waschtisch ins Schlafzimmer und holte heißes Wasser und das Waschzeug.
    Harriet hatte ihre Milch getrunken, und als Sally sie auszog, stellte sie fest, dass die Kleine noch trocken war, was sie sehr erleichterte. Das Mädchen war sehr schläfrig; ihre Wangen glühten und sie kaute am Daumen herum. Sally setzte sie aufs Töpfchen, wusch sie, zog ihr dann das Nachthemd an, kämmte sie und bezog das Bett mit den nun etwas wärmeren Laken.
    Als sie Harriet ins Bett trug, begann die Kleine plötzlich zu weinen – ein tiefes, verzweifeltes Schluchzen.
    »Was hast du denn, Liebling?«
    »Baldwin … Baldwin …«
    So hieß das wollene Lämmchen, das seit dem Verlust von Bruin ihr neues heiß geliebtes Kuscheltier war. Und das hatten sie bei den Molloys vergessen. Sally setzte sich aufs Bett und wiegte Harriet, die das Gesicht an die Schulter ihrer Mutter drückte, sanft in den Armen.
    »Weine nicht, Liebling – hör zu – wir schreiben einen Brief an Mrs Molloy und bitten sie, Baldwin dem Postboten zu übergeben. Und der soll ihn zu uns bringen, abgemacht? Wir geben den Brief gleich morgen zur Post. Wir sind auf Abenteuerreise. Baldwin – Baldwin ist bei Mr und Mrs Molloy geblieben, um auf sie aufzupassen. Weil er so ein tapferes Lamm ist. Aber schau mal!« – Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie setzte Harriet so rasch auf den Boden, dass sie zu weinen aufhörte – »Da ist eine Maus!«
    In der Hoffnung, sich noch an die Handgriffe zu erinnern, nahm sie rasch ein Taschentuch aus der Reisetasche, schüttelte es auf und faltete, drehte, zog und knotete so lange, bis am Ende etwas herauskam, das wie ein Ding mit zwei Ohren und einem Schwanz aussah. Ihr Vater hatte ihr das gezeigt, als sie noch ein Kind war.
    Harriet nahm es und drückte es mit einer Hand an die Brust, den Daumen der anderen immer noch fest im Mund. Sally küsste sie und legte sie auf das Bett. Dann blies sie die Kerze aus. Ein Lichtstreifen fiel durch die offene Tür des Nebenzimmers, gerade so breit, dass Sally die glänzenden Tränen auf Harriets Wange erkennen konnte. Eine Woge zärtlicher Gefühle kam mit solcher Macht über sie, dass auch sie die Tränen nicht zurückhalten konnte. Sie spürte einen Kloß im Hals.
    Nach einer Weile hatte sie sich wieder gefasst. Sie streichelte Harriets Kopf und sang dazu ein Kinderlied.
     
    Lavendel ist blau, dideldum,
    Lavendel ist grün, dideldei;
    Wenn ich einmal König bin,
    bist

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