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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Hübsche, die Kuh da drüben – und Sie natürlich auch nicht – fast geschenkt. Nennen Sie einen Preis!«
    Neben ihm schüttete ein Gemüsehändler große Kartoffeln in den Einkaufskorb eines Kunden und ein Stück weiter hatte ein Trödler Kisten und Kleiderständer voller abgewetzter Mäntel nach draußen gestellt, dazu eine Tonne mit alten Schuhen. Sally und Harriet flanierten vorbei wie Touristen. So lebten also die Menschen in Whitechapel. Sie brachten zerbrochene Regenschirme ins Pfandhaus, aßen Aal in Aspik, gingen in Schuhen, die vor ihnen schon andere getragen hatten, schliefen –
    Nein! Noch kein Gedanke an eine Bleibe für die Nacht. Eins nach dem anderen. Zuerst das Essen.
    Neben dem Altkleiderladen gab es ein anheimelndes Speisehaus. Durch die Fenster konnte man Leute an Tischen sitzen sehen und ein verlockender Duft drang nach draußen.
    Sally öffnete die Tür und entdeckte auf der linken Seite noch Plätze. Auf dem Tisch vor der kastenähnlichen Sitzgruppe stand zwar noch das schmutzige Geschirr der Vorgänger, aber sonst war alles besetzt. Sie hob Harriet auf die hölzerne Bank. Das Mädchen krabbelte ein Stück weiter, um Sally Platz zu machen.
    Die anderen Gäste starrten herüber; war sie denn so anders als sie? Ein eisgrauer Arbeiter am Tisch gegenüber, der eine große Portion Kartoffelbrei in sich hineinschaufelte, konnte kaum die Augen von ihnen lassen. Sally fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis sie nicht mehr auffiel. Vielleicht hätten sie doch nicht ins East End fahren sollen.
    Dann kam der Kellner. Die lange, vorgebundene Schürze musste irgendwann einmal weiß gewesen sein. Er räumte die schmutzigen Teller, das Besteck und die leeren Flaschen weg, wischte den Tisch mit einem schmierigen Lappen ab und sagte: »Ja bitte?«
    »Gibt es ein Menü?«, erkundigte sich Sally.
    »Ein was?«
    »Was haben Sie zu essen?«
    »Das Gleiche wie immer. Kartoffelbrei und Bratwurst. Gedünsteter Aal. Gebratene Heringe. Zweipenny-Pastete.«
    »Eine Zweipenny-Pastete, bitte. Und – «
    »Kartoffelbrei?«
    »Oh, ja.«
    »Und das Mädelchen? Wie heißt du denn?«, sagte er zu Harriet, die ihn von unten herauf angestarrt hatte.
    Sofort versteckte sie das Gesicht in Sallys Ärmel.
    »Das ist Harriet«, sagte Sally. »Wir teilen uns die Pastete und den Kartoffelbrei, wenn Sie einen Löffel und eine Gabel für sie bringen könnten. Ach ja – und eine Tasse Tee und ein Glas Milch, bitte.« Sie hoffte, dass man solche Getränke hier bekam.
    Der Kellner nickte, zwinkerte der wieder aufblickenden Harriet zu und eilte von dannen. Sally zählte verstohlen das ihr verbliebene Geld: acht Shilling und sieben Pence. Gestern noch – hätte sie nur daran gedacht, ihr Geld schon früher abzuheben, dann –
    Nein, bloß nicht daran denken.
    Die Zweipenny-Pastete stellte sich als Biesenportion heraus. Sie war mit Rindfleisch gefüllt, die Teigkruste schien sehr dick, die Soße roch lecker und der Teller war warm. Es war also durchaus essbar und sie brauchten nicht zu verhungern. Eins nach dem anderen. Sally schnitt ein paar Stückchen von der Pastete ab und legte sie zum Abkühlen für Harriet auf die eine Hälfte des Tellers.
    Harriet war jetzt wieder vollkommen wach, hatte aber immer noch glänzende Augen und heiße Wangen, an denen Sally bereits die auf sie zukommende schlaflose Nacht ablesen konnte. Immer eins nach dem anderen, sagte sie sich, sei froh, dass sie jetzt wieder richtig wach ist. Sie pustete auf ein Pastetenstückchen und gab es Harriet mit dem Löffel. Auf Tischmanieren musste sie jetzt verzichten.
    Zu zweit schafften sie die Pastete gerade, doch vom Kartoffelbrei ließen sie einiges übrig. Sie waren reichlich satt. Sally blieb so lange wie möglich in der gemütlichen kleinen Ecke, las Harriet Zeile für Zeile die Theaterzettel der Varietes vor und erklärte ihr, was ein Taschenspieler war und was Señor Chavez, der Mann ohne Knochen, auf der Bühne machte. Harriet saß glücklich da und lauschte; vermutlich verstand sie nur ein Zehntel von allem, aber es war Mamas Stimme und sie spürte ihre Nähe und Wärme.
    »Einen Nachtisch, Madame?«, fragte der Kellner. Sally blickte auf; er hatte zu Harriet gesprochen, die ihn mit großen Augen anschaute. »Wir haben Pflaumenauflauf, Pudding, Eiercreme – «
    »Nein danke«, wehrte Sally ab. »Aber die Pastete war wirklich gut. Darf ich um die Rechnung bitten?«
    »Wie? Ach so, natürlich. Zweipenny-Pastete und Kartoffelbrei – Soße – Tee

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