Der Tiger im Brunnen
meine Frau ausgegeben habe, aber das schien mir das Sicherste zu sein. Der Polizist beobachtet uns immer noch. Kommen Sie mit mir?«
Die Mission
Er war mittelgroß, kräftig gebaut und trug einen abgewetzten Mantel sowie einen schwarzen Hut, den er abnahm, als er im Schein des Gaslichts zu ihr sprach. Mit seinem dichten schwarzen Bart strahlte er eine merkwürdige Mischung aus Sanftmut, Nachsicht und Entschlossenheit aus.
Er setzte den Hut wieder auf und erneut lag sein Gesicht im Schatten.
»Ich kenne Sie gar nicht«, sagte Sally. »Wenn Sie ein Freund sind, dann müssen Sie auch wissen, wie ich heiße. Kennen Sie meinen Namen?«
»Ihr Name ist Lockhart und das Kind heißt Harriet.«
»Woher wissen Sie das? Haben Sie mich verfolgt?«
»Ja. Eine ganze Weile schon. Sie dachten, Sie seien in Gefahr, und das sind Sie auch. Aber Sie haben auch Freunde, von denen Sie gar nichts ahnen.«
»Freunde … Wer ist der Freund, von dem Sie vorhin gesprochen haben?«
»Mit seinem Namen könnten Sie sicherlich nichts anfangen. Es ist nicht Mr Parrish, falls Sie das vielleicht glauben. Jetzt wäre es für Sie besser, mit mir zu kommen. Der Polizist schaut immer noch zu uns herüber.«
Sie wandte sich um, und tatsächlich stand der Polizist noch immer vor dem Friedhof und beobachtete sie misstrauisch.
»Wohin denn?«
»In ein Haus nicht weit von hier. Dort sind Sie sicher und dort können Sie und Ihre Tochter auch schlafen.«
Er ging weiter. Sally wechselte Harriet von einem Arm auf den anderen, dann folgte sie ihm. Sie war verwirrt. Wenn das ein Traum wäre, und so kam es ihr vor, dann würde sie mit ihm gehen. Mr Katz flößte ihr Vertrauen ein. Im Übrigen hatte sie im Augenblick gar keine andere Wahl.
Hin und wieder, wenn ein Betrunkener oder eine Bande Kinder und einmal auch zwei kreischende Frauen Sally vom Gehweg zu drängen drohten, kam er näher zu ihr, nahm ihren Arm und schirmte sie gegen die Gefahr ab. Er machte keinen besonders kämpferischen Eindruck, aber seine Hand war kräftig und sein Schritt gleichmäßig. Sie ließ sich von ihm führen.
Wenig später blieb Sallys Beschützer in einer ruhigen Straße in Spitalfields stehen. Er zog an der Glocke eines großen Hauses, dessen Fenster ebenso wie das Oberlicht über der Tür noch aus dem achtzehnten Jahrhundert zu stammen schienen. Eine Frau mittleren Alters öffnete und ließ sie eintreten.
Sally stand in einer spärlich beleuchteten, schäbigen Diele, in der es nach Kohl roch. Es gab keine Bilder an den Wänden und weder Teppiche noch Linoleum bedeckten den Fußboden, doch die Dielenbretter waren sauber.
Wäre es nach ihren schmerzenden Armen gegangen, hätte sie Harriet auf den Boden gesetzt, doch das Kind war eingeschlafen und begann zu rebellieren, sobald es spürte, dass Sally sich bewegte. Müde wechselte Sally nochmals den Arm und seufzte, als sie merkte, dass Harriet nass war. Und keine frischen Kleider. Was sollte sie tun?
Mr Katz sprach leise mit der Frau, die sie eingelassen hatte. Dann wandte er sich wieder an Sally.
»Ich lasse Sie jetzt hier«, sagte er. »Sie sind in Sicherheit. Ich komme bald wieder, dann können wir miteinander reden, aber jetzt muss ich gehn.«
Er lüftete den Hut und sie sah in diese faszinierenden tiefschwarzen Augen. Dann war er fort.
Die Frau sagte: »Kommen Sie bitte hier entlang. Miss Robbins wird Sie empfangen.«
»Aber wer – «, begann Sally, doch die Frau ging schon nach oben voraus. Sally folgte ihr und ließ sich zu einem Zimmer führen. Die Frau öffnete, stellte Sally mit ihrem Namen vor und verließ sie dann. Sally trat ein.
Es war ein großes, spartanisch eingerichtetes Zimmer, in dem außer ein paar Stühlen nur ein Schreibtisch stand, auf dem sich Papiere aller Art, amtliche Mitteilungen, ein paar Ausgaben des Hansard und verschiedene politische Blätter stapelten. Hinter dem Schreibtisch saß eine Frau, in der Sally Miss Robbins vermutete: um die vierzig, kräftig gebaut und mit einem strengen, fast grausamen Gesichtsausdruck. Das Kleid, das sie trug, war schmucklos, ihr Haar hatte sie zu einem Knoten zurückgebunden, ohne auch nur zu versuchen, ihre Erscheinung ein wenig gefälliger zu machen. Das Weiße ihrer Augen war rings um die Iris zu sehen, was ihr einen beunruhigenden Raubvogelblick verlieh. Sie schaute Sally ein paar Sekunden durchdringend an, dann erhob sie sich und reichte ihr die Hand. Sally schüttelte sie.
»Setzen Sie sich doch, Miss Lockhart«, sagte die Frau.
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