Der Tiger im Brunnen
– Milch – macht zusammen fünf Pence.«
Sie gab ihm eine Sechspence-Münze und sagte, er könne den Rest behalten. Er hob die Augenbrauen. Sie dachte:
Hätte ich ihm kein Trinkgeld geben sollen? Hier ist das vielleicht nicht üblich. – Oder war es zu wenig? Hätte ich ihm mehr geben müssen?
Der Kellner steckte das Geld in seine Westentasche, räumte Teller und Besteck fort und sagte leise: »Noch einen schönen Abend, Madame. Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Es ist nicht Ihre Kleidung, die Sie hier verrät. Es ist Ihre Sprache. Versuchen Sie es etwas salopper, dann fallen Sie nicht so auf. Sie gewöhnen sich schon daran.«
Sie öffnete die Lippen, um ihm etwas zu entgegnen, fand aber nicht die passenden Worte und begnügte sich mit einem Kopfnicken. Der Kellner wischte noch einmal kurz mit dem Lappen über den Tisch und steuerte auf die Küche zu.
Also wieder raus auf die Straße, dachte Sally und nahm Harriet auf den Arm. Die Kleine schien ihr schwer, voller Pastete, oder war sie selbst nur müde? Im Übrigen wusste sie selber sehr gut, dass sie sich durch ihre Aussprache verriet. Aber sie hatte nie gelernt, mit Londoner Akzent zu sprechen. Es war zwecklos, es zu versuchen, es würde nur aufgesetzt wirken.
Was sollten sie als Nächstes tun?
Harriet gefiel es, von Mama getragen zu werden und im Vorübergehen die Verkaufsstände, Gasthäuser und Läden zu sehen und den Menschen beim Kaufen und Feilbieten, Schwatzen und Schimpfen zuzuschauen. Und Sally gefiel es für einen Augenblick ebenfalls, sich mit Harriet vom Menschenstrom treiben zu lassen. Auf der dunklen Straße, wo nur der Schein der Petroleumlampen die Szene hier und da in ein theatralisches Licht tauchte, fühlte sie sich unsichtbar. Kaum jemand blickte sie an. Sie fühlte sich sicher.
Wenn sie nur nicht so erschöpft gewesen wäre. Wer erschöpft ist, fühlt sich wie betrunken, vermutete sie, denn sie selbst war noch nie betrunken gewesen. Nur einmal hatte sie ein wenig Opium geraucht, und die große Mattigkeit, die sie jetzt empfand, war dem Schwindelgefühl von damals recht ähnlich …
Sally wusste nicht, wie lange sie schon umhergewandert waren; sie wusste auch nicht, wo sie überhaupt waren. Nur, dass sie frei waren, darauf kam es an. Hin und wieder kamen sie an einem Haus mit dem Schild Pension oder Quartier für Reisende vorbei, manchmal hing auch nur ein Zettel im Fenster, auf dem Zimmer frei stand. Im Schein der Gaslaternen sahen alle wenig einladend aus: dunkle, enge Löcher mit schmutzigen Fenstern.
Die Läden und Verkaufsstände blieben hier bis spät in die Nacht geöffnet. Immerhin war es trocken, der Himmel hatte sich aufgehellt. Sie kamen an einem Altkleiderladen vorbei, mit zusammengefalteten Decken in der Auslage. Einer Eingebung folgend, war Sally dort, ohne sich von dem muffigen Geruch abstoßen zu lassen, eingetreten und hatte für vier Pence zwei Decken erstanden. Jetzt hatte sie insgesamt zehn Pence ausgegeben, dafür aber hatten sie einen vollen Bauch und etwas, um sich gegen die Kälte zu schützen. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, was sie zu dem alten Mann gesagt hatte, als sie in seinen Laden trat, auch nicht, wie sie es gesagt hatte, auf jeden Fall schien er kein bisschen erstaunt.
Gegenüber stand eine Kirche, umgeben von Bäumen, und war da nicht auch eine Bank? In der Dunkelheit war es schwer zu erkennen. Ja, es war eine Bank, eine trockene sogar, denn sie stand unter dem dichten Laubdach einer Eibe.
Sally schüttelte die Decken aus und breitete eine, unter Harriets fragenden Blicken, auf der Bank aus. Dann setzte sie sich, nahm Harriet auf den Schoß, legte sich die zweite Decke um die Schultern und wickelte die erste um sich und Harriet. Schließlich lehnte sie sich zurück.
»O Harriet«, flüsterte sie. »Was hätte dein Papa nur gesagt, wenn er uns hier sehen könnte. Er hätte gesagt: Sally Lockhart, du bist wohl nicht mehr bei Trost. Ganz England steht dir offen und du schläfst auf einer Bank im East End. Außerdem hätte er gesagt: Wehr dich, reiß dich zusammen und zeig es ihnen …«
Harriet lag daumenlutschend an Sallys Brust und wurde von der flüsternden Stimme der Mutter schläfrig. Der Pelzbesatz an Harriets Hut bewegte sich unmerklich unter Sallys Atem, während sie fortfuhr: »Fred, was soll ich tun? Es sind zu viele Feinde, gegen die ich kämpfen muss. Ich weiß nicht, wer sie sind und warum sie … Aber sie bekommen sie nie, das weißt du. Ich werde sie nie aufgeben,
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