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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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jedem öffentlichen Gebäude eine Uhr gab, von denen einige sogar übereinstimmten.
    »Na, dann gehen wir mal zum Pfandleiher«, sagte sie zu Harriet und nahm sie bei der Hand. Sie hielt nach den drei Messingbällen, dem Zeichen der Leihhäuser, Ausschau, und tatsächlich, keine hundert Meter entfernt, waren auch schon welche zu sehen.
    Da es Donnerstagabend war und viele den kläglichen Wochenlohn schon aufgebraucht hatten, herrschte im Leihhaus großer Andrang. Viele arme Familien versetzten etwas, um die Lücke bis zur nächsten Löhnung zu überbrücken.
    Sally stellte sich in dem muffigen Geschäft zu den anderen wartenden Frauen in die Schlange. Vorn waren der Pfandleiher und seine Frau damit beschäftigt, Pennys und Shillinge zu zählen, Leihscheine auszustellen und Pfandgegenstände in Regale und Schubladen zu verfrachten. Meist waren es nur kümmerliche Sachen wie Pfannen, Kinderschuhe oder das eingerahmte Bildnis des verstorbenen Prinzgemahls.
    Sally, im warmen Mantel und mit Hut, fühlte sich deplatziert und auch Harriet schaute sich mit großen Augen um. Das Menschengedränge, der Staub und der Geruch muffiger Kleidung und ungewaschener Körper, das Halbdunkel des Leihhauses machten ihr Angst. Die anderen Frauen maßen sie mit neugierigen Blicken und unterhielten sich, ein wenig Abstand haltend, in gedämpftem Ton miteinander.
    Dann kam Sally an die Reihe. Der Pfandleiher, ein weißhaariger Mann mit taxierendem Blick, sagte ihr gleich zu Beginn: »Fassen Sie sich bitte kurz, ich habe heute viel Kundschaft.«
    »Ich möchte eine Taschenuhr versetzen«, sagte Sally. Sie hatte das vorher noch nie gemacht und wusste nicht, wie viel sie sich erhoffen durfte und wie sie sich überhaupt benehmen sollte. »Eine goldene Taschenuhr«, präzisierte sie.
    »Dann zeigen Sie mal her«, sagte der Pfandleiher.
    »Ach so, entschuldigen Sie bitte.« Sie kramte in der Tasche und hätte die Uhr beinahe aus ihrer behandschuhten Hand fallen lassen. Sie und Harriet waren hier die Einzigen, die Handschuhe trugen. Sally reichte die zuverlässig tickende Taschenuhr ihres Vaters über den Tresen und beobachtete, wie der Pfandleiher sie entgegennahm, ans Ohr hielt, dann den Deckel aufschnappen ließ, mit dem Fingernagel daran klopfte und das Uhrwerk aus der Nähe prüfte.
    »Fünf Shilling«, sagte er.
    »Fünf Shilling – « Sie musste schlucken. Die Uhr war sicherlich um die fünf Pfund wert, das Zwanzigfache. Doch der Mann schaute schon ungeduldig über ihre Schulter auf den Nächsten in der Reihe und von hinten drängelte jemand.
    Sally ahnte, dass fünf Shilling für die Frauen hier eine beachtliche Summe darstellten. Im Übrigen hatte der Pfandleiher hier alle Macht und sie keine andere Wahl. Also sagte sie: »Gut, einverstanden.«
    Er nummerierte einen Leihschein, riss ihn in zwei Hälften, klebte die eine Hälfte auf die Taschenuhr und gab die andere Sally. Sie steckte den Schein ein und beobachtete, wie er die Uhr nicht gerade achtsam in einer Schublade verschwinden ließ. Dann gab er ihr ein Halbkronenstück, zwei Shilling und sechs Pence. Sally nahm das Geld, griff nach Harriets Hand und bewegte sich zum Ausgang.
    »Kopf hoch, das wird schon wieder«, sagte eine korpulente Frau mit Regenschirm.
    Sally lächelte, die Frau wirkte so munter, dass sie sogleich wieder ein bisschen Mut fasste. Aber fünf Shilling! Sie hatte auf etwa drei Pfund gehofft …
    Draußen auf der belebten Straße bekam sie plötzlich Hunger. Keine Bleibe weit und breit, aber zu essen gab es reichlich. Dort am Stand bot man Aal in Aspik für einen Penny die Portion an, daneben Austern und im Laden auf der anderen Seite gab es gebackenen Fisch.
    »Hast du Hunger, Liebling?«, erkundigte sich Sally.
    »Will nach Hause«, war alles, was Harriet sagte.
    »Später. Jetzt suchen wir uns erst einmal etwas zum Abendessen.«
    Sally ging weiter, Harriet folgte ihr halbwegs willig. Das Mädchen war immer noch schläfrig und hatte fiebrige Wangen, die Sally gar nicht gefielen, doch die Lichter, das Gewimmel und das Stimmengewirr faszinierten sie, solange sie nur in Mamas Nähe sein konnte.
    Sally spürte, wie das Mädchen an ihr zog, und blieb vor einem Stand stehen, wo ein Metzger, das Gesicht schaurig bleich im Petroleumlicht, hurtig hackend und schneidend ein Schlachttier in zwei Hälften zerlegte. Sein Geselle rief dazu aus voller Kehle: »Billig, billig! Nennen Sie selbst einen Preis. Schauen Sie nur dieses prächtige Stück Fleisch – nicht du, meine

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