Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
eher sterbe ich. O Fred, dein Schweigen … Das Geld, Fred, heute Morgen … Das war so viel wie vier Jahre Lohn für die Menschen, die hier leben. Die würden ihren Augen nicht trauen, wenn sie so viel Geld auf einem Haufen sähen. Arme Frauen, Fred, die für ein paar Pennys ihre Pfannen versetzen … Und jetzt ist alles weg …«
    »Alles weg«, murmelte Harriet im Halbschlaf.
    »Ja, alles weg«, flüsterte Sally und streichelte ihr die Wange. »Aber das andere Geld ist noch viel wichtiger. Wenn Margaret etwas von dem Aktienbestand für mich hätte verkaufen können, wären wir auf der sicheren Seite gewesen. Wir hätten ein kleines Haus in – sagen wir Hampstead – oder anderswo gekauft. Sarah-Jane wäre nachgekommen und hätte sich um Harriet gekümmert, ich hätte meinen Namen geändert – Mrs Jones – und wäre zum Gegenangriff übergegangen. Das hätte ich doch gekonnt, nicht wahr, Fred? Ich habe doch auch früher schon gekämpft und gewonnen. Aber früher hatte ich dich an meiner Seite. Und ich wusste, gegen wen ich zu kämpfen hatte …«
    Sie schaute über den dunklen Friedhof. Die Straße schien jetzt weit weg, das Geschrei der Händler durch die Entfernung und das Laubwerk gedämpft, oder war es nur ihre eigene Müdigkeit? Eine Gestalt torkelte auf den Friedhof, stolperte über einen Stein und fiel hin. Im Liegen murmelte sie irgendwelche Verwünschungen. Dann kam die Gestalt – ob Mann oder Frau, war unter den Lumpen nicht auszumachen – wieder mühsam auf die Beine und schleppte sich zu einem Seiteneingang der Kirche. Dort wollte sie sich gerade niederlassen, als sich eine andere Gestalt – ein Schatten unter anderen Schatten – erhob und sie beiseiteschob. Sally hörte erst, wie sich jemand übergeben musste, und dann einen gedämpften Fluch.
    Sie beobachtete alles ohne Verwunderung. Nach und nach bemerkte sie noch andere Gestalten, die im Schutz der Dunkelheit vor Eingängen, hinter Grabsteinen und auf der anderen, tiefer im Schatten liegenden Bank einen Platz für die Nacht gefunden hatten.
    »Hier sind noch eine Menge anderer Leute«, flüsterte sie. »Alle schlafen, das sollte ich auch tun. Warum war diese Bank hier eigentlich noch frei? Auf der anderen sitzen sie zu zweit oder zu dritt, eingewickelt wie Harriet und ich. O Fred, es war falsch, hierherzukommen. Ich hätte ihr das nicht zumuten sollen. Aber ich wusste einfach nicht, was tun. Ich, die großherzige, unabhängige Frau, die immer so stolz war … Ich habe für andere Geschäfte gemacht und damit eigenes Geld verdient und kam mir weiß Gott wie schlau vor. Und nun das. Ich sitze auf einer Friedhofsbank, mit zwei alten Decken für die Nacht und gerade mal sieben Shilling als ganzem Vermögen …«
    Plötzlich hielt sie den Atem an. Außer ihr saß noch jemand auf der Bank. Harriet rührte sich nicht, doch Sally war mit einem Schlag hellwach, ein Schauer lief ihr über den Rücken. Die Umrisse eines Mannes, das war alles, was sie erkennen konnte, und er schaute zu ihr herüber.
    Dann waren Schritte zu hören, schwere, gleichmäßige Schritte, die den Kiesweg heraufkamen. Jetzt wusste sie, warum diese Bank frei gewesen war. Die Schritte kamen nahe bei ihr zum Stehen. Es war ein Polizist mit einer Laterne, die er ihr direkt vors Gesicht hielt.
    »Was haben Sie vor?«, fragte er. »Hier können Sie nicht bleiben. Sie sind doch nicht obdachlos?«
    Ehe sie antworten konnte, fing der Mann im Schatten neben ihr zu sprechen an.
    »Bitte, Constable«, sagte er in tiefem Ton und mit einem starken ausländischen Akzent – Russisch? Polnisch? »Meine Frau spricht kein Englisch. Wir machen nur eine kurze Rast. Wir kommen von den Docks, unser Schiff ist erst heute aus Hamburg hier angekommen.«
    »Haben Sie eine Unterkunft?«
    »O ja, ich habe einen Cousin in der Lamb Street in Spitalfields. Wir mussten uns einfach einen Augenblick ausruhen.«
    »Dann machen Sie sich lieber wieder auf den Weg. Das hier ist kein Platz zum Rasten.«
    Der Polizist beobachtete, wie der Mann behutsam Sallys Arm nahm. Sie ließ sich beim Aufstehen helfen und wickelte sich die Decken bis hinauf um ihren Hals. Harriet hielt sie dabei eng an sich gedrückt.
    Wortlos ging sie mit dem Mann den Kiesweg hinunter bis zum Friedhofstor, dann bogen sie links in die Straße ein.
    »Wer sind Sie?«, fragte sie ihn, als sie außer Hörweite des Polizisten waren.
    »Ein Freund«, antwortete er. »Der Freund eines Freundes. Ich heiße Morris Katz. Verzeihen Sie mir, dass ich Sie für

Weitere Kostenlose Bücher