Der Tiger im Brunnen
Parrish.«
Parrish und die anderen Männer rührten sich nicht von der Stelle und schauten zu, wie die Geschäftsführerin einen Schlüssel aus dem Bund an ihrer Taille löste. Sally mochte Margaret nicht ansehen. Sie ging rückwärts zur Tür und hielt die Männer mit der Waffe in Schach.
»Sie kommen mit mir raus«, wies sie die Geschäftsführerin an. »Alle anderen bleiben, wo sie sind.«
Die Frau tat, wie ihr geheißen. Die drei eingesperrten Männer liefen zur Tür und rüttelten an der Klinke; die Gäste schauten nervös durch die Schaufenster.
Sally setzte Harriet ab, nahm den Schlüssel und steckte ihn in ihre Tasche. »Die anderen auch«, sagte sie, da ihr einfiel, dass es noch einen Ersatzschlüssel geben könnte. Wortlos übergab ihr die Geschäftsführerin den Bund. Sally nahm ihn und warf ihn, so weit sie konnte, die Straße hinunter. In der Dunkelheit hörte sie ihn irgendwo klirrend aufschlagen.
»Tut mir wirklich leid, aber es ging nicht anders.«
Die Männer rüttelten immer noch an der Tür. Sally löste vorsichtig den Hahn, legte den Revolver in den Korb und hob Harriet wieder auf, ehe sie um die Ecke davonstürmte.
Ein paar Passanten waren verdutzt stehen geblieben. Sicherlich würden die Männer nicht lange zögern, eine Scheibe einzuschlagen und durch das Fenster nach draußen zu klettern. Sie musste rennen, eine Droschke nehmen, sich verstecken …
In diesem Augenblick kam ein in Richtung Holborn fahrender Omnibus vorbei. Sally kämpfte sich durch die Scharen der Fußgänger und stieg mit Harriet auf dem Arm auf die hintere Plattform. Dort drängte sie sich an den vom Oberdeck kommenden Männern vorbei ins Innere des Wagens und fand einen Sitzplatz. Sie nahm Harriet auf den Schoß und beobachtete durch das Fenster die Straße, konnte aber keine Verfolger entdecken. Die Schaufenster waren mittlerweile erleuchtet; auf der New Oxford Street drängten sich Kauflustige und Angestellte auf dem Nachhauseweg, Zeitungsjungen und Blumenmädchen. Der Nachmittag ging zu Ende und Dunkelheit legte sich über die Stadt.
»Bis zur Endstation, bitte«, sagte Sally zum Schaffner und reichte ihm eine Vier-Pence-Münze. Sie nahm den Fahrschein entgegen und lehnte sich zurück. Jetzt, da sie sich ein wenig entspannen konnte, fing sie wieder an zu zittern.
Aus Gewohnheit strich sie Harriet die Haarsträhnen unter die Mütze.
»Wir verstecken uns irgendwo, Harriet«, flüsterte sie.
»Nach Hause gehn«, sagte Harriet.
Sally konnte keine Antwort mehr geben. Sie saß still da und hielt ihre Tochter fest an sich gedrückt, während sie im abendlichen Verkehrsstrom Richtung East End trieben.
Der Friedhof
Sally und Harriet blieben bis zur Endstation im Omnibus. Harriet war eingeschlafen und auch Sally fühlte sich gerädert und zum Umfallen müde. Sie hob den Korb auf, rückte Harriet in die Beuge ihres linken Arms und stand auf.
»Wo sind wir hier?«, fragte sie den alten Schaffner.
»Whitechapel Road«, sagte er, »beim London Hospital. Weiter geht’s nicht. Das ist die Endhaltestelle.«
Sie stieg aus und versuchte sich im Verkehrsgewühl zu orientieren. Es war früher Abend, auf Straße und Gehwegen wimmelte es von Fahrzeugen und Fußgängern; die Atmosphäre war erfüllt von Verkehrslärm, dem Geruch von gebackenem Fisch und dem Glanz der Petroleumlampen. Harriet rieb sich die Augen. Sally setzte sie einen Augenblick ab und die Kleine klammerte sich an ihren Rock und weinte. Sally kramte in ihrer Geldbörse. Drei Shilling und sieben Pence – das war alles, was sie noch besaß.
Eins nach dem anderen, sagte sie sich. Nicht zu weit vorausdenken. Hier gibt es bestimmt ein Leihhaus in der Nähe; was könnte ich denn verpfänden?
Sie besaß fast keinen Schmuck. Sie hatte ein Medaillon, das ihr Frederick einmal geschenkt hatte und von dem sie sich nicht trennen wollte, aber sie trug weder Ohrringe noch Broschen noch einen Armreif. Das Einzige, was sie versetzen könnte, war die goldene Taschenuhr ihres Vaters.
Also gut, dann muss es eben die Uhr sein, sagte sie sich. Der Pfandleiher muss sie ein Jahr und einen Tag lang behalten, eher darf er sie nicht verkaufen, und lange vor dieser Frist wird die ganze Geschichte hier zu Ende sein und ich kann die Uhr zurückkaufen.
Außerdem hatte sie noch den Revolver …
Nein. Der hatte ihr heute Nachmittag geholfen und sie könnte ihn auch weiterhin noch einmal brauchen. Eine Taschenuhr benötigte sie nicht, jedenfalls nicht in London, wo es an
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