Der Tiger im Brunnen
Männer in den Docks, die den Neuankömmlingen – selbstverständlich gegen Bezahlung – ein Quartier verschaffen. Der Vermieter überlässt ihnen ein Zimmer zu einem Wucherpreis, einen Monat im Voraus zu zahlen. In der Woche darauf oder schon am nächsten Tag erfahren sie dann von Bekannten oder Nachbarn, wie hoch der übliche Mietzins ist – doch nun ist es zu spät. Der Vermieter denkt überhaupt nicht daran, ihnen etwas von dem Betrag zurückzuzahlen, und selbst wenn die Mieter ausziehen, was macht das schon? Mit dem nächsten Schiff kommen wieder neue Opfer. Parrish praktiziert viele Arten von Betrug, und dabei ist er noch nicht einmal an Ausbeutungsbetrieben beteiligt, obgleich er das gerne wäre und auch plant.
Doch außer den Juden, die er ausnimmt, hat der Gentleman noch andere Goldgruben. Er besitzt sechs Häuser im Londoner West End, die ihm pro Woche zwischen sechzig und siebzig Pfund einbringen. Wie hoch wäre normalerweise die Miete für ein Haus dieser Größenordnung? Zwei Guineen? Drei? Aber er nimmt pro Woche sechzig, siebzig Pfund ein. Was steckt dahinter? Glücksspiel und Prostitution, was sonst. Ich weiß das, weil ich vor ein paar Wochen dafür gesorgt habe, dass sein Geldeintreiber überfallen wurde.« Goldberg bemerkte Sallys verwundertes Gesicht und setzte schmunzelnd hinzu: »Oh, auch ich mache krumme Sachen, neben dem Journalismus. Bis jetzt habe ich noch niemanden umgebracht, aber daraus möchte ich kein unumstößliches Prinzip machen. In diesem Fall ging das Geld an das Heim für jüdische Flüchtlinge in Wapping. Was ich aber eigentlich haben wollte, ist das hier.«
Er zog eine Schublade auf und holte das speckige, kleine Notizbuch heraus, das Bill Mr Tubb abgenommen hatte. Sally blätterte es durch: Über einen Zeitraum von mehreren Monaten waren hier sämtliche Einnahmen genauestens notiert worden, dazu Adressen …
Sie war sprachlos.
»Damit haben wir ihn!«, jubilierte sie. »Damit kann ich – Wenn er so ein Verbrecher ist, wird das Gericht ihm niemals das Sorgerecht für Harriet überlassen! Und er muss mir mein Geld zurückgeben – «
»Wollen Sie vor Gericht gegen ihn aussagen?«
»Keine Frage. Mit einem solchen Beweis in der Hand!«
»Denken Sie noch mal nach. Für das Gericht sind Sie mit ihm verheiratet.«
»Oh …« Erst jetzt wurde ihr schmerzlich bewusst: »Eine Ehefrau kann ja nicht gegen ihren Mann aussagen. Aber bestimmt – «
Er nahm das Notizbuch wieder an sich.
»Ich verwahre es an einem sicheren Ort. Wir werden es noch brauchen – aber nicht jetzt.«
»Wie sind Sie eigentlich darauf gekommen, sich für mich und meine Situation zu interessieren?«, fragte Sally. »Ich habe doch mit der jüdischen Einwanderungsproblematik gar nichts zu tun.«
»Alles, was Parrish betrifft, ist für mich von Interesse. Und als ich erfuhr, dass er die Scheidung von einer Frau anstrebte und das Sorgerecht für ein Kind erhalten wollte, fragte ich mich natürlich, warum. Je länger ich darüber nachdachte, desto verrückter erschien es mir.«
»Es ist wirklich verrückt. Ich dachte, er sei wahnsinnig. Warum verfolgt er gerade mich, warum Harriet? Es schien keine Erklärung zu geben, außer, ja, außer der, dass es irgendwie doch stimmte und ich es nur vergessen hatte … Es ist unglaublich, was Menschen alles vergessen; auch mir ist das schon passiert … Aber um das zu vergessen, müsste ich geisteskrank sein, und es gab tatsächlich Zeiten, da dachte ich, es wäre so … Doch das ist vorbei … Harriet ist nicht sein Kind. Ihr Vater ist tot. Und überhaupt …«
»Und überhaupt würde eine Frau wie Sie niemals einen Mann wie Parrish heiraten«, sagte er trocken. »Das ergibt keinen Sinn.«
»Aber was dann?«
»Passen Sie auf«, setzte er ihr auseinander. »Die verrückte Idee stammt gar nicht von Parrish. Jemand, der sich im Hintergrund hält, will Sie dadurch bestrafen, dass er Ihnen ihr Kind wegnimmt. Parrish tut es nur des Geldes wegen, er ist nichts weiter als eine Schachfigur. Es hätte ebenso ein anderer machen können. Vergessen Sie Parrish. Die geheime Gestalt im Hintergrund ist der Zaddik.«
Sally schwieg. Möglichkeiten wie diese hatte sie selbst schon viele Male durchgespielt, ohne aber einen Namen für die Schattengestalt zu finden. Alles war leere Spekulation geblieben. Dass Goldberg nun denselben Gedanken äußerte, verlieh ihm Gestalt und Gewicht. Es bedeutete, dass sie nicht verrückt war und dass sie nun einen Verbündeten hatte.
»Verstehen
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