Der Tiger im Brunnen
Hilfe unerreichbar sind, keiner im Umkreis einer Meile ihre Sprache spricht, sagen sie ihnen klipp und klar, welchen Preis sie für die kümmerliche Bleibe zu zahlen haben. Die Mädchen, die in Parrishs schmutzigen Absteigen arbeiten, sind zur Hälfte Flüchtlinge, arme jüdische Mädchen, die aus Russland gekommen sind. Wenn sie dann ihre Frische verloren oder sich mit Krankheiten angesteckt haben, werden sie ins Ausland geschafft und an Bordelle in Hafenstädten verkauft. Bevorzugtes Ziel ist Südamerika. Das ist die Sorte Mensch, mit denen wir es zu tun haben, Miss Lockhart, Männer ohne Skrupel.«
Sally saß fassungslos da, wieder hatte es ihr die Sprache verschlagen. Goldberg fuhr fort.
»Verstehen Sie jetzt, warum ich Ihre Hilfe brauche? Wir müssen herausfinden, welches Interesse der Zaddik daran haben könnte, Ihnen wehzutun. Wenn wir das herausfinden, wissen wir auch, wer er ist. Und dann können wir ihn vielleicht unschädlich machen. Doch nun zu den praktischen Dingen. Was brauchen Sie am dringendsten? Geld?«
Sally gab sich einen Ruck und sagte: »Ja, erstens Geld. Und dann müsste ich das Kindermädchen meiner Tochter darüber informieren, wo wir uns aufhalten. Und ebenso meine Geschäftspartnerin, Miss Haddow … Diese drei Dinge sind am wichtigsten. Dann müsste ich den Geistlichen ausfindig machen, der den Eintrag im Heiratsregister unterschrieben hat.«
»Gut.« Goldberg nahm einen neuen Bogen Papier und schrieb alles auf. Ohne hinschauen zu müssen, griff er nach Federhalter und Tinte und tunkte die Feder mit traumwandlerischer Sicherheit ins Tintenfass. »Sie sollten der Kinderfrau und Ihrer Geschäftspartnerin eine kurze Notiz schreiben, und zwar am besten gleich. Wenn ich damit dann zu den beiden gehe, lernen sie mich kennen und werden mir vertrauen. Parrish weiß, wenn ich richtig informiert bin, nichts von mir. Er weiß zwar, dass jemand hinter ihm her ist, aber nicht, wer. Kommen Sie, schreiben Sie etwas.«
Damit erhob er sich und bot ihr seinen Platz an. Sally tat, wie ihr geheißen, und steckte dann jede Notiz in einen Umschlag, den sie versiegelte. Goldberg saß währenddessen auf der Fensterbank und schaute ihr zu. Sie spürte seinen Blick, fühlte sich dadurch aber nicht belästigt. In gewisser Hinsicht hatte es sogar etwas Schmeichelhaftes, von einem solchen Mann betrachtet zu werden. Diesen Gedanken verdrängte sie zwar gleich wieder, doch vergessen wollte sie ihn nicht.
»Fertig?«, erkundigte sich Goldberg. »Gut, dann bringe ich Sie jetzt zur Sozialmission zurück, auch wenn Sie einen Revolver bei sich haben. Ich hatte mir das sowieso vorgenommen. So habe ich das Vergnügen, noch ein wenig mit Ihnen zusammen zu sein, und sehe auch gleich, wo die Mission ist. Dann weiß ich beim nächsten Mal gleich Bescheid, wenn ich zu Miss Robbins muss. Über ihre Arbeit könnte man einen interessanten Artikel schreiben, wenn das hier alles vorbei ist. Manche Genossen belächeln bürgerliche Sozialreformer, die in die Slums gehen, um dort zu helfen. Ich tue das nicht. Gewiss, es wäre besser, wenn es keine Elendsviertel gäbe, und daher lautet das vorrangige Ziel, sie abzuschaffen. Aber solange es sie gibt, ist es wichtig, dass Menschen wie Miss Robbins dafür sorgen, dass heute Nacht ein Dutzend Frauen ein Dach über dem Kopf haben und Medizin gegen ihren Husten bekommen. – Ihr Hut …«
»Danke«, sagte Sally. »Eigentlich gehört er gar nicht mir. Er ist nur geliehen, mir ist er zu groß …« Sie wusste genau, warum sie ihm das sagte: aus Eitelkeit. Doch sie hatte es schon so lange nicht mehr genossen, hübsch auszusehen. Nicht jetzt, ermahnte sie sich. Auch das war etwas für später.
Sie redeten nicht viel im Omnibus, und auch als sie sich im Schein der Gaslaterne vor der Sozialmission die Hand gaben, schenkte Goldberg ihr nur ein flüchtiges Lächeln. Aber später, nachdem sie Harriet einen Kuss gegeben und neben sie unter die Decke geschlüpft war, erlaubte Sally sich, über den Grund jener seltsamen, mit Angst vermischten Freude nachzudenken, die sich in einem Winkel ihres Herzens regte. Er lag wohl darin, dass sie in Daniel Goldberg etwas äußerst Seltenes gefunden hatte – einen Mann, den sie sogleich und ohne jeden weiteren Beweis als ihr ebenbürtig anerkannte.
Nur einen Kilometer entfernt saß der Zaddik im Salon seines Hauses und wartete darauf, dass Mr Parrish ihm erklärte, wie er Sally hatte entwischen lassen können.
Der Affe hockte ihm auf der Schulter und
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