Der Tiger im Brunnen
sie gleich kennenlernen würde.
»Er heißt Jacob Adler«, sagte er, »aber er hat noch andere Namen. Wissen Sie, er wird von der Polizei in mehreren Ländern gesucht – allerdings nicht im Zusammenhang mit Dingen, die Sie als Verbrechen bezeichnen würden. In diesem Haus und in diesem Land ist er jetzt unter dem Namen Goldberg bekannt. Daniel Goldberg.«
»Der Journalist?«
Sally hatte schon die Treppe hinaufgehen wollen, doch nun hielt sie inne.
»Sie haben von ihm gehört. Dann wissen Sie auch, warum er nicht beliebt ist.«
»Ich rede mit keinem Journalisten. Schon gar keinem …«
»Keinem Sozialisten?«
Sie antwortete nicht. Sie saß in der Falle: Was sie jetzt auch tat, es wäre töricht. Da sie nun einmal mitgegangen war, schien es falsch, ihn nicht sprechen zu wollen. Was den Sozialismus betraf, so hatte sie an diesem Tag so manches gesehen, was sie nachdenklich machte.
»Also gut.«
»Haben Sie genug Geld, um nach Whitechapel zurückzufahren? Ich komme nicht mit hinein. Ich habe noch ein paar andere Dinge zu erledigen.«
»Ja. Aber warum – «
»Sie finden ihn im Zimmer im zweiten Stock vorn an der Treppe. Da oben, das ist sein Fenster.« Er deutete auf ein kleines, erleuchtetes Fenster. Sie sah einen Schatten an der Decke entlangwandern. »Gehen Sie einfach hinein. Das ist ein Treffpunkt. Hier gehen ständig Leute ein und aus. Niemand wird Sie beachten. Guten Abend …«
Und ehe sie noch etwas sagen konnte, war er in der Menschenmenge vor dem kleinen Theater nebenan verschwunden.
Sie drehte sich wieder zum Haus. Die Tür stand offen. Tatsächlich herrschte hier ein ständiges Kommen und Gehen. Ein Plakat neben der Treppe kündigte einen Vortrag in Englisch und in einer anderen Sprache an, deren Buchstaben sie nicht kannte: Russisch war es nicht, vielleicht Hebräisch?
Sally nahm die ersten Stufen und drängte sich durch die wartende Menge vor einem Saal, in dem ein kleiner, bärtiger Mann in einem dunkelblauen Jackett vor dem dicht gedrängten Publikum sprach. Seine Stimme war wohlklingend, seine Gestik opernhaft und seine Augen hatten eine geradezu magnetisierende Wirkung. Seine Zuhörer applaudierten und jubelten, pfiffen und johlten vor Vergnügen. Dabei aßen, tranken und rauchten sie, diskutierten mit den Nachbarn oder den Zuhörern draußen, die keinen Platz mehr gefunden hatten.
Im ersten Stock sah Sally einen Raum, in dem Männer und Frauen an Tischen saßen und Zeitung lasen, schrieben oder Schach spielten. Das Ganze hatte mehr das Aussehen eines Clubs als das einer Pension. In dem Stimmengewirr konnte sie drei Sprachen ausmachen, die sie kannte, und einige andere, die ihr vollkommen fremd waren. Niemand nahm von ihr Notiz.
Dann stieg sie in den zweiten Stock hinauf. Hier oben war es dunkler und ruhiger. Sally merkte, wie ihr Herz raste. Wenn das nun eine Falle war? Man hatte sie hereingelegt – Katz hatte sie hergelockt und war dann nach Whitechapel zurückgekehrt, um Harriet zu holen -
Welcher Teufel hatte sie geritten, hierherzukommen? Wie hatte sie nur so naiv sein können! Wann würde sie endlich lernen vorsichtiger zu sein?
Sally tastete nach ihrem Revolver, den sie unter einem Schal im Korb versteckt hatte. Er war da, massiv, schwer und geladen. Sie nahm ihn in die Hand und schob den Henkel des Korbs so weit den Arm hinauf, dass sie die Hand zum Schießen frei hatte. Dann klopfte sie an die Tür, unter der ein Lichtstreifen durchfiel.
»Ja«, ließ sich eine Stimme vernehmen. »Nur herein.«
Sie öffnete die Tür und trat vorsichtig ein.
Ein Mann bei der Arbeit
Goldberg schaute auf. Bebend, alle Fasern ihres Körpers gespannt wie eine Raubkatze vor dem Sprung, stand Sally in der Tür. Das Weiß ihrer Augen schimmerte, ihr blondes Haar glänzte. Sie sah beeindruckend aus: verzweifelt, verstört, aber furchtlos. Und vor allem dermaßen hübsch – nein, das Wort war viel zu schwach: Sie war einfach hinreißend.
Obwohl er sie vorher nie gesehen hatte, wusste Goldberg sofort, wer sie war. Er stand auf.
»Miss Lockhart – herzlich willkommen. Treten Sie doch ein. Wissen Sie eigentlich, wie lange ich schon nach Ihnen suche?«
»Ich … ein Mann namens Katz hat mich hierhergeführt. Aber – «
»Ich habe ihn gebeten, sich um Sie zu kümmern. Hat er Sie zu Miss Robbins’ Sozialmission gebracht?«
Sie nickte. Goldberg brachte ihr einen Stuhl und machte sich dann an einer Anrichte zu schaffen.
Sally schaute sich verlegen um. Das ganze Zimmer, so schien
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