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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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es ihr, atmete Geschäftigkeit – als drängten sich hier Menschen wie auf dem Börsenparkett, im Parlamentssaal oder auf der Hinterbühne eines großen Theaters. Alles strahlte Energie, Tatkraft und Zielstrebigkeit aus.
    Und doch hatte hier nur ein Mann am Tisch gesessen und geschrieben.
    Goldberg drehte sich wieder zu ihr und fragte: »Trinken Sie ein Glas Wein?«
    Ohne ihre Antwort abzuwarten, füllte er zwei kleine Gläser mit etwas, das nach einem kostbaren alten Tropfen aussah. Auf seinem Schreibtisch, das hatte Sally gleich gesehen, stapelten sich aufgeschlagene Bücher und Zeitungen und selbst der Fußboden war mit beschriebenen Blättern übersät. Sein System war offenbar einfach: Sobald er ein Blatt (jeweils nur auf einer Seite) voll geschrieben hatte, ließ er es auf den Boden fallen und machte sich an das nächste. Mit einem war er gerade zur Hälfte fertig; eine schwungvolle, kräftige Handschrift prangte darauf, allerdings auch ein paar Tintenkleckse … Ein faustgroßer Stein diente als Briefbeschwerer für einen Stapel Blätter, daneben standen Stifte und Federhalter in einem Becher griffbereit.
    Er reichte ihr das Glas und setzte sich.
    Daniel Goldberg war jünger, als sie ihn sich vorgestellt hatte: Mit dem vollen dunklen Haar, in das sich nur an den Schläfen ein paar graue Strähnen eingeschlichen hatten, schätzte sie ihn auf Ende zwanzig. Er hatte eine kräftige Statur, breite Schultern und Hände, denen man zutraute, dass sie einen dieser amtlichen Kommissionsberichte in zwei Hälften zerreißen konnten. Und seinem Gesicht nach zu urteilen, würde er das sicher mit Genuss tun. Er hatte dunkle Augen, um die sich ein dichtes Netz von Lachfalten gelegt hatte. Die Nase war kräftig, die Nüstern gebläht, der Mund breit und beweglich. Schön konnte man ihn wohl kaum nennen, aber er sprühte vor Lebensfreude.
    Goldberg erhob sein Glas.
    »Tod unseren Feinden!«, lautete sein Trinkspruch.
    Sally nippte an ihrem Glas. Der Wein war süß und schwer.
    Dann sprachen plötzlich beide gleichzeitig und mussten darüber lachen. Sie ließ ihm den Vortritt.
    »Und das Mädchen?«, fragte er. »Ist es in Sicherheit?«
    »Ja, das ist es. Aber … wie haben Sie überhaupt von mir erfahren? Und Sie haben von unseren Feinden gesprochen … Ist Parrish auch Ihr Feind? Mr Goldberg, sagen Sie mir bitte, was hier eigentlich gespielt wird.«
    »Parrish ist ein Verbrecher. Ich bin einem Betrug, einem gewaltigen Komplott gegen jüdische Immigranten auf der Spur. Irgendjemand, der im Hintergrund die Fäden zieht, nimmt sie erbarmungslos aus. Man verkauft ihnen gefälschte Fahrkarten für die Schiffspassage, nötigt sie, für Schlepper zu zahlen, die nie auftauchen, knöpft ihnen fiktive Zoll- und Einreisegebühren ab und Gott weiß, was noch alles. Irgendwer muss ja die Schmiergelder für die vielen Helfershelfer bezahlen. Dafür werden Tausende und Abertausende betrogen und um ihre letzte Habe gebracht. Bei diesem gewaltigen Schwindel greift ein Rädchen ins andere – von St. Petersburg bis nach London, Hull und Liverpool – das Netz reicht noch weiter bis nach New York. Unter der russischen Bevölkerung herrscht gegenwärtig eine regelrechte Pogromstimmung, da braucht es gar keinen Anstoß mehr von außen. Ich glaube aber, dass diese Verschwörung, diese Organisation, dieses Komplott oder wie auch immer man es nennen will, es darauf abgesehen hat, Pogrome anzuzetteln, um eine neue Einwanderungswelle auszulösen. Wissen Sie, was ein Pogrom ist? Plünderung, Terror und Zerstörung.
    Jemand steckt also dahinter und organisiert das Ganze. Ich habe ihn gesehen, weiß aber nicht, wer er ist. Die Leute nennen ihn Zaddik – das ist das jiddische Wort für einen gerechten und heiligen Mann. Ironie, wie Sie sehen. Der Zaddik hat seine Helfershelfer überall in Europa und sicherlich auch in Amerika. Und sein Mann in London ist Ihr Mr Parrish.«
    Sally holte tief Luft. »Erzählen Sie weiter«, bat sie ihn.
    »Er ist dazu bestens geeignet. Ein Kommissionär – mit einem weiten Betätigungsfeld und einem Metier ohne feste Konturen – hat vielfältige Geschäfte abzuwickeln, ständig fließt Geld durch seine Hände. Da fällt es schwer, ihm unsaubere Praktiken nachzuweisen. Doch genau das tut er. Nehmen wir zum Beispiel die Einwanderer, die in London ankommen. Manche haben eine Adresse, zu der sie gehen können – einen Bruder, einen entfernten Cousin oder sonst einen Verwandten. Aber viele kennen niemanden. Parrish hat

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