Der Tiger im Brunnen
da würde gut in die Ecke passen …«
Sie zeigte ihm, was sie meinte. Langsam beteiligte er sich am Spiel, tat aber immer nur das, was sie vorschlug. Entweder traute er sich selbst nichts zu oder er hatte einfach keine Idee, was er machen könnte.
Weil es nicht sehr viele Bauklötze gab, waren sie mit dem Haus schnell fertig. Es hatte eine Tür, aber kein Dach und nur ein einziges Fenster.
Sie knieten davor und betrachteten es.
Was könnten wir jetzt machen, dachte Sally. Was könnten wir nun spielen?
Johnny wusste nicht, was spielen bedeutet. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er gespielt. Als sie sich diese düstere kleine Ewigkeit von drei Jahren ausmalte, kamen ihr die Tränen. Ihr wurde klar, wie wenig sie für ihn tun konnte – denn sie wusste selbst nicht, wie man spielt.
Genauso wenig wie er hatte sie eine Vorstellung davon, was man mit einem Spielzeughaus machen konnte.
Zu Hause war es immer Sarah-Jane, die mit Harriet spielte, während Sally zwischendurch kurz hereinschaute, über den herzigen Anblick lächelte und dann wieder ging. Oder Jim. Er nahm das Kind an die Hand und suchte mit ihm im Garten nach Bonbons, die er vorher sorgfältig versteckt hatte. Oder auch Webster. Er hatte ihr die Schaukel gebaut und er setzte sie auf die fahrbare Kamera und spielte mit ihr Eisenbahn. Sally hatte sich bisher damit begnügt, zuzuschauen und sich dann wichtigeren Dingen zu widmen, eine Finanzzeitung zu lesen oder Klienten über die günstigste Geldanlage zu beraten.
Und jetzt wusste sie nicht, wie man einem kleinen Jungen zeigt, was spielen heißt.
Das leere Haus stand akkurat zwischen ihnen. Sie holte aus und schob die Hand sachte gegen die Mauer. Alles stürzte zusammen.
Am Abend kam Mr Katz.
Sally hatte die Briefe für Miss Robbins geschrieben, Harriet ins Bett gebracht, etwas Brot und Käse zu Abend gegessen und dann Frau Dr. Turner in der Apotheke der Mission geholfen, aus altem Musselinstoff Verbandszeug zu machen und Medizinflaschen auszuwaschen. Bis jetzt hatte sie noch keine freie Minute für sich gehabt. Freilich wusste sie, was sie noch alles zu tun hatte: das Geldproblem angehen, Margaret schreiben und Sarah-Jane mitteilen, wo sie sich aufhielt; und dann endlich das Rätsel lösen, weshalb Parrish sie verfolgte. Doch bis dahin genügte es ihr, sich in Sicherheit zu fühlen.
Um acht Uhr abends kam die Hausgehilfin Susan in das Apothekerzimmer und meldete, für Sally sei Besuch gekommen. Er warte unten auf sie. Sallys Herz raste, bis Susan hinzufügte, es sei derselbe Herr, der sie tags zuvor hergebracht habe. Sally trocknete sich die Hände ab und spürte, dass ihr Gesicht wieder Farbe bekam.
Mr Katz wartete in Miss Robbins’ Büro. Als Sally eintrat, erhob er sich. Im Licht sah sie ihn jetzt deutlicher als in der Nacht zuvor. So bemerkte sie seine abgewetzten Ärmel und die schief gelaufenen Absätze seiner Stiefel. Aber seine warme Bassstimme beruhigte sie und seine Augen blickten freundlich.
Sie gaben sich die Hand.
»Mr Katz, ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet«, begann Sally. »Aber ich hoffe, dass Sie mir nun sagen, wer Sie sind und wie Sie von mir erfahren haben.«
»Ich bringe Sie zu jemandem, der Ihre Hilfe braucht«, entgegnete er. »Er wird Ihnen sagen, was Sie wissen möchten.«
»Meine Hilfe? Ich glaube kaum, dass ich in meiner Lage irgendjemandem eine Hilfe sein kann.«
»Sie helfen ihm allein schon, wenn Sie hören, was er Ihnen zu sagen hat. Haben Sie Mantel und Hut? Was Sie gestern trugen, schien mir recht auffällig – könnten Sie sich etwas anderes leihen? Man wird uns nicht entdecken, aber Vorsicht schadet nie.«
»Borgen Sie sich doch meine Sachen aus«, schlug Frau Dr. Turner vor, die forsch-fröhlich dazugestoßen war. »Langweilige, alte Sachen. Kein Mensch wird Sie darin erkennen. Und machen Sie sich keine Sorgen um Harriet; wir passen schon auf sie auf.«
Sie holte einen rostbraunen weiten Mantel von einem Garderobenhaken neben der Tür und warf ihn Sally über die Schultern. Dann reichte sie ihr einen Hut – eine Nummer zu groß, aber so lagen ihre Augen im Schatten – und schließlich einen Korb, den sie aus dem Schlafzimmer geholt hatte. Fertig war die Verkleidung.
»Wohin gehen wir?«, fragte Sally.
»Nach Soho«, antwortete Katz.
Er sprach wenig im Omnibus, wenig im Gedränge der Oxford Street, wo sie ausstiegen, und ebenso wenig auf dem Weg die Dean Street hinunter. Erst als sie vor der Pension standen, verriet ihr Katz, wen
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