Der Tiger im Brunnen
Sie jetzt, warum ich Sie unbedingt finden wollte?«, fuhr er fort. »Ich muss herausbekommen, wer der Zaddik ist. Einiges weiß ich schon. Wenn es jemand ist, der Sie hasst, und wenn Sie eine Vorstellung haben, wer es sein könnte, nun, dann kriegen wir ihn. Und Sie haben freie Hand, mit diesem Wissen vor Gericht zu ziehen. Allerdings würde ich mir das nächste Mal einen besseren Anwalt nehmen. Ich habe den Ihren im Gerichtssaal gehört. Ein ausgemachter Esel.«
»Das werde ich bestimmt. Mr Goldberg, was Sie da sagen, ist für mich die freudigste Nachricht seit … oh, seit Wochen. Aber dieser Mann im Hintergrund, dieser Zaddik, was macht er und wer ist er?«
Goldberg erzählte ihr, was in Amsterdam geschehen war. Sie hörte gespannt zu. Ihre Pupillen weiteten sich, als die Rede auf den unheimlichen, massigen Körper des Gelähmten fiel, auf den schattenhaft umherhuschenden, bösartigen Affen, auf das Mädchen in der Kutsche, das schreiend geflohen war und eher den Tod im Wasser gesucht hatte als … ja – als was eigentlich? Sally spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. Und dieses Ungeheuer wollte Harriet?
Wer konnte es nur sein?
»Ich glaube, dass er sich in London aufhält«, sagte Goldberg. »Sicher weiß ich es nicht, aber ein Mann, der mein Vertrauen besitzt, hat vor kurzem gesehen, wie diese große, schwarze Kutsche von einem Schiff an Land gebracht wurde. Und tatsächlich hätte der Zaddik ja allen Grund, rechtzeitig zum Urteilsspruch hier zu sein, nicht wahr? Sicherlich ist die ganze Bande über Ihr Verschwinden höchst ungehalten.«
»Gestern hätten sie mich um ein Haar erwischt«, sagte Sally. »Ich musste … nun ja.«
Sie holte den Revolver hervor. Goldberg pfiff leise durch die Zähne.
»Donnerwetter, das ist aber eine Kanone«, sagte er anerkennend. »Haben Sie damit geschossen?«
»Gestern war ich drauf und dran, es zu tun.« Sie erzählte ihm, was bisher geschehen war, angefangen von dem Vormittag im Garten von Orchard House, als der Scheidungsantrag überbracht wurde, bis zu dem Augenblick, als Katz sie auf der Friedhofsbank antraf. Er unterbrach sie nur einmal: Sie erzählte gerade von dem jungen Mann, der sie an der Einmündung zur Middle Temple Lane angehalten hatte. »Das war Bill«, erläuterte er, »ein Schützling von mir. Er hat mir gesagt, Sie hätten ihn so grimmig angesehen, dass er glaubte, Sie wollten ihn töten. Sie seien ihm vorgekommen wie eine Raubkatze. Ich wollte Sie unbedingt selbst kennenlernen, und das habe ich ja nun. Aber bitte, erzählen Sie weiter.«
Beide schauten sich eine Weile an, dann senkte sie den Blick und fuhr fort.
Als sie geendet hatte, blieb Goldberg noch einen Augenblick still sitzen. Dann stützte er die Hände flach auf den Tisch und erhob sich.
»Ja, wirklich«, sagte er, »Sie haben sich noch ein Glas Wein verdient.«
Er nahm ihr Glas und schenkte ihr nochmals ein.
»Tokajer«, sagte er. »Aus meiner Heimat.«
»Sie sind Ungar?«
»Das war ich einmal. Jetzt bin ich … ja, was eigentlich. Ich lebe und arbeite hier in England. Ich schreibe auf Englisch und vielleicht werde ich eines Tages auch noch Engländer. – Nieder mit dem Zaddik!«
Sie tranken. Und Sally wusste plötzlich nichts mehr zu sagen. Grund dafür war die plötzliche Erleichterung und der Trost, einen Verbündeten gefunden zu haben; aber mehr noch das Wesen dieses Verbündeten – sein Charisma, seine Vitalität. Aus ihm sprühte ein feuriger Geist und elektrisierte alle, die in seine Nähe kamen – und dabei war er nur ein Mann, der sich mit Leib und Seele seiner Arbeit verschrieben hatte. Das aber war es, was sie an einem Menschen schätzte.
Mit einem Mal fühlte Sally sich wie ein kleines Mädchen und wusste nicht, was sie sagen sollte.
Du bist aber kein kleines Mädchen mehr, ermahnte sie sich selbst. Du bist erwachsen, also mach den Mund auf und sag irgendetwas.
»In Parrishs Notizbuch«, brachte sie schließlich hervor und zeigte dabei auf das Buch auf dem Tisch, »steht etwas von Ostware. Was hat das zu bedeuten?«
Er blickte sie fest an und sagte: »Mädchen aus dem Osten, die zum Zweck der Prostitution verkauft werden. Das gehört zu den vielen Geschäften des Zaddik und seiner Kreatur Parrish. Die beiden halten sich eine Anzahl von Frauen, von denen einige Jiddisch sprechen und die sie in die Docks schicken, um dort allein reisende Mädchen zu ködern. Sie bieten ihnen eine Unterkunft an, und wenn die armen Dinger erst einmal für jede fremde
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