Der Tod auf dem Nil
gefischt wurde. Zuerst einmal hätte sie, wenn unsere Annahmen stimmten, gar nicht über Bord geworfen werden dürfen… Aber es gab noch mehr.»
Poirot wandte sich Dr. Bessner zu. «Sie, Dr. Bessner, haben Linnet Doyles Leiche untersucht. Sie werden sich erinnern, dass die Schusswunde teilweise versengt war – das heißt, die Pistole wurde vor dem Schuss direkt auf dem Kopf aufgesetzt.»
Dr. Bessner nickte. «Jawohl. Korrekt.»
«Aber als die Pistole gefunden wurde, war sie eingewickelt in eine Samtstola und der Samt zeigte eindeutige Spuren von einem Schuss durch den Stoff, vermutlich abgefeuert in dem Glauben, damit würde der Knall gedämpft. Wenn der Schuss auf Madame Doyle aber durch den Samt abgefeuert worden wäre, gäbe es keine Versengungen auf ihrer Haut. Also war es der Schuss, den Jacqueline de Bellefort auf Simon Doyle abgab? Auch nicht, denn für den gab es zwei Zeugen, über den wissen wir genau Bescheid. Es schien also, als habe es noch einen dritten Schuss gegeben – einen, über den wir gar nichts wissen. Aus der Pistole waren aber nur zwei Schüsse abgegeben worden und es gab keinen Hinweis auf einen weiteren.
Hier hatten wir also ein sehr eigenartiges, unerklärliches Detail vor uns. Der nächste interessante Punkt war, dass ich in Linnet Doyles Kabine zwei Flaschen Nagellack fand. Nun wechseln Damen zwar gern oft die Farbe ihrer Fingernägel, aber ich hatte bis dahin an Linnet Doyle immer den Farbton namens Kardinalrot gesehen. Auf der zweiten Flasche stand ‹Rose›, aber der winzige Rest in der Flasche war nicht zartrosa, sondern leuchtend rot. Ich war so neugierig, das Fläschchen aufzumachen und zu schnuppern. Statt wie üblich scharf nach künstlichen Birnen roch dieses aber nach Essig! Das heißt, dass die paar Tropfen darin offensichtlich rote Tinte waren. Nun gibt es keinen Grund, weshalb Madame Doyle nicht ein Fläschchen rote Tinte besitzen sollte, aber es wäre normal gewesen, wenn sie rote Tinte in einem roten Tintenfläschchen gehabt hätte und nicht in einem Nagellackfläschchen. Es legte also eine Verbindung mit den blassen Flecken auf dem Taschentuch nahe, in das die Pistole gewickelt gewesen war. Rote Tinte wäscht sich zwar raus, hinterlässt aber immer einen blassrosa Fleck.
Ich wäre vielleicht dank dieser spärlichen Indizien auf die Wahrheit gestoßen, aber dann passierte etwas, das jeden Zweifel unnötig machte. Louise Bourget wurde getötet, und zwar unter Umständen, die unmissverständlich darauf hindeuteten, dass sie den Mörder erpresst hatte. Nicht nur klemmte ein Stück vom einem mille francs-Schein noch in ihrer Hand, ich erinnerte mich auch an ein paar sehr bedeutungsvolle Worte, die sie morgens gesagt hatte.
Hören Sie genau zu, denn sie sind der Angelpunkt der ganzen Sache. Als ich sie fragte, ob sie in der Nacht zuvor irgendetwas gesehen hätte, gab sie folgende seltsame Antwort: ‹Natürlich, wenn ich nicht hätte schlafen können, wenn ich die Treppe hochgegangen wäre, dann hätte ich den Mörder vielleicht gesehen, dieses Ungeheuer, wie es in Madames Kabine geht oder wieder rauskommt…› Nun, was genau sagt uns das?»
Dr. Bessner kräuselte vor lauter intellektuellem Eifer die Nase. «Es sagt Ihnen, sie war die Treppe hochgegangen.»
«Nein, nein; darum geht es nicht. Warum sagt sie das überhaupt, und uns?»
«Um einen Hinweis zu geben.»
«Aber warum einen Hinweis? Wenn sie weiß, wer der Mörder ist, stehen ihr zwei Wege offen: uns die Wahrheit zu sagen oder den Mund zu halten und von der betreffenden Person Schweigegeld zu fordern! Aber sie macht keins von beidem. Weder sagt sie schlicht: ‹Ich habe niemand gesehen. Ich habe geschlafen.› Noch sagt sie: ‹Ja, ich habe jemand gesehen, und das war XY.› Warum diese auffällige Rabulistik? Parbleu, dafür kann es nur einen Grund geben! Sie gibt dem Mörder einen Hinweis; also muss der Mörder zu dem Zeitpunkt dabei gewesen sein. Aber außer mir und Colonel Race waren nur noch zwei andere da – Simon Doyle und Dr. Bessner.»
Der Arzt sprang auf und brüllte: «Ach! Was reden Sie denn da? Beschuldigen Sie mich? Schon wieder? Aber das ist ja lächerlich – unter aller Kritik!»
Poirot sagte barsch: «Seien Sie still. Ich erzähle Ihnen nur, was ich zu der Zeit dachte. Wir wollen auch jetzt nicht persönlich werden.»
«Er meint nicht, dass er Sie jetzt noch verdächtigt», sagte Cornelia beschwichtigend.
Poirot fuhr rasch fort: «So sah es also aus – Simon Doyle oder Dr. Bessner.
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