Der Tod auf dem Nil
zweiten Grades, wird der Durchbruch.»
«Wie skrupellos du bist, Mutter!»
An dem, was sich nach dem Abendessen tat, hätte jeder, der die menschliche Natur studiert, seine Freude gehabt. Der sozialistische junge Mann (der sich wie vermutet als Mr. Ferguson entpuppte) zog sich in den Rauchsalon zurück und zeigte nur Verachtung für die Ansammlung von Fahrgästen im Aussichtssalon auf dem Topdeck.
Miss Van Schuyler sicherte sich, wie es ihr gebührte, den besten Platz ohne Zugluft, indem sie mit festem Schritt auf den Tisch zustrebte, an dem Mrs. Otterbourne saß, und verfügte: «Sie werden gewiss entschuldigen, aber ich denke, ich habe mein Strickzeug hier hingelegt.»
Unter ihrem hypnotischen Blick erhob sich der Turban und überließ ihr das Feld. Miss Van Schuyler übernahm den Tisch mitsamt ihrem Tross. Mrs. Otterbourne fand in der Nähe Platz und riskierte ein paar Gesprächsversuche, die aber mit einer so eisigen Höflichkeit bedacht wurden, dass sie bald aufgab. Ab da thronte Miss Van Schuyler in glorioser Unnahbarkeit am Tisch.
Die Doyles saßen zusammen mit den Allertons. Dr. Bessner machte den stillen Mr. Fanthorp zu seinem Tischgenossen. Jacqueline de Bellefort saß allein mit einem Buch da. Rosalie Otterbourne war unruhig. Mrs. Allerton sprach sie ein-, zweimal an und versuchte sie in ihren Kreis zu ziehen, aber das Mädchen reagierte nur ungnädig.
Hercule Poirot verbrachte den Abend damit, sich Mrs. Otterbournes Vortrag über ihre Berufung als Schriftstellerin anzuhören.
Als er in seine Kabine zurückgehen wollte, traf er auf Jacqueline de Bellefort. Sie lehnte an der Reling, und als sie den Kopf zu ihm drehte, bekam er einen Schreck, weil in ihrem Gesicht nur das nackte Elend geschrieben stand. Nichts Unbekümmertes mehr, nichts boshaft Provozierendes, kein dunkler, flammender Triumph. «Gute Nacht, Mademoiselle.»
«Gute Nacht, Monsieur Poirot.» Sie zögerte, dann fragte sie: «Hat es Sie überrascht, dass ich auch hier bin?»
«Es hat mich weniger überrascht als mir Leid getan – sehr Leid.» Er sagte das sehr ernst.
«Sie meinen, Leid – meinetwegen?»
«Genau das meinte ich. Sie haben sich, Mademoiselle, für den gefährlichen Kurs entschieden… So wie wir alle hier auf dem Schiff uns auf eine Reise begeben haben, so haben Sie sich auf Ihre eigene private Reise begeben – eine Reise auf einem reißenden Fluss, zwischen gefährlichen Felswänden hindurch, auf wer weiß welche katastrophalen Strömungen zu…»
«Warum sagen Sie das?»
«Weil es wahr ist. Sie haben die Seile, mit denen Sie im Sicheren vertäut waren, gekappt. Ich bezweifle, dass Sie jetzt noch zurückkönnten, wenn Sie wollten.»
Sie sagte sehr langsam: «Das ist wahr…» Dann warf sie den Kopf in den Nacken. «Ach was – man muss seinem Stern folgen, wo immer er hinführt.»
«Passen Sie nur auf, Mademoiselle, dass es kein falscher Stern ist.»
Sie lachte und machte das papageienhafte Gekrähe der Eselsjungen nach: «Die Stern ganz schlecht, Sir! Die Stern fallen runter…»
Er wollte gerade einschlafen, als ein Stimmengemurmel ihn wieder wach machte. Es war Simon Doyles Stimme, und er hörte sie dieselben Worte sagen wie vorhin, als der Dampfer in Shellal abgelegt hatte: «Wir müssen es jetzt zu Ende bringen…»
Ja, dachte Poirot bei sich, wir müssen es jetzt zu Ende bringen…
Er war nicht glücklich darüber.
Neuntes Kapitel
D er Dampfer kam früh am nächsten Morgen in Ez-Zebua an.
Cornelia Robson sprang als eine der Ersten an Land, mit strahlendem Gesicht und einem breiten, flatternden Hut. Cornelia konnte niemandem die kalte Schulter zeigen. Sie hatte ein freundliches Wesen und den Hang, all ihre Mitgeschöpfe zu mögen.
Sie prallte auch beim Anblick von Hercule Poirot im weißen Anzug, dazu rosa Hemd, schwarze Fliege und weißer Tropenhelm, keineswegs angewidert zurück, wie es die aristokratische Miss Van Schuyler getan hätte. Beide gingen gemeinsam die Allee aus Sphinxen entlang, und Cornelia gab auf Poirots eher konventionelle Gesprächseröffnung: «Die Damen in Ihrer Begleitung gehen nicht an Land und besuchen die Tempel?» bereitwillig Auskunft: «Ach, wissen Sie, Cousine Marie – das ist Miss Van Schuyler – steht nie sehr früh auf. Sie muss sich gesundheitlich sehr, sehr vorsehen. Und natürlich braucht sie Miss Bowers, das ist ihre Pflegerin, dabei. Sie hat auch gesagt, der Tempel hier gehört nicht zu den besten – aber sie war furchtbar nett und fand es völlig in
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