Der Tod auf dem Nil
tue ihm bloß Leid – furchtbar Leid, weil er weiß, wie schrecklich das Wissen, dass ich ihn so schwer verletzt habe, für mich ist.»
«Ah, jeh», sagte Poirot. «Das reine Mitleid, das ist ein sehr erhabenes Sentiment.»
Er sah sie an, mit einem halb spöttischen, halb von einem anderen Gefühl geprägten Blick. Dann murmelte er sanft und kaum hörbar auf Französisch:
La vie est vaine.
Un peu d ’ amour,
Un peu de haine,
Et puis bonjour.
La vie est brève.
Un peu d ’ espoir,
Un peu de rêve,
Et puis bonsoir.
Er ging wieder hinaus an Deck.
Dort lief Colonel Race entlang und rief ihm sofort zu: «Poirot. Mein Bester! Ich brauche Sie. Ich habe eine Idee.»
Er hakte Poirot unter und zog ihn mit sich. «Bloß eine zufällige Bemerkung von Doyle. Ist mir in dem Moment kaum aufgefallen. Irgendwas mit einem Telegramm.»
«Tiens – c ’ est vrai.»
«Vielleicht gar nichts dran, aber man darf keinen Weg unerforscht lassen. Verdammt noch mal, Mann, zwei Morde und wir tappen noch immer im Dunkeln.»
Poirot schüttelte den Kopf. «Nein, nicht im Dunkeln. Im Licht.»
Race sah ihn neugierig an. «Sie haben eine Idee?»
«Es ist mehr als eine Idee. Ich bin sicher.-»
«Seit wann denn das?»
«Seit dem Tod von Louise Bourget, dem Dienstmädchen.»
«Verdammt, wieso begreife ich das nicht!»
«Mein Freund, es ist so klar – so klar. Nur, es gibt auch Schwierigkeiten – Peinlichkeiten – Hindernisse! Sehen Sie mal, um jemanden wie Linnet Doyle herum gibt es so viele widerstreitende Gefühle, Hass und Eifersucht und Neid und Gemeinheit. Das ist wie eine Wolke aus lauter Fliegen, die summen und summen…»
«Aber Sie glauben, Sie wissen jetzt Bescheid?» Der andere sah ihn neugierig an. «Sie würden das nicht sagen, wenn Sie nicht sicher wären. Ich persönlich kann nicht behaupten, dass ich irgendwo wirklich klar sehe. Ich habe natürlich den einen oder anderen Verdacht…»
Poirot blieb stehen und legte bedeutungsvoll die Hand auf Races Arm. «Sie sind ein großartiger Mann, mon Col o nel … Sie sagen nicht: ‹Reden Sie. Was denken Sie?› Sie wissen, wenn ich jetzt reden könnte, würde ich es tun. Aber erst gibt es noch viel zu klären. Überlegen Sie mal, überlegen Sie entlang der Linie, die ich Ihnen sage. Es gibt gewisse Anhaltspunkte… Es gibt die Aussage von Mademoiselle de Bellefort, dass jemand unser Gespräch an jenem Abend in Assuan mit angehört hat. Es gibt die Aussage von Monsieur Tim Allerton bezüglich dessen, was er zum Zeitpunkt des Verbrechens gehört und getan hat. Es gibt Louise Bourgets bedeutungsvolle Antworten auf unsere Fragen heute Morgen. Es gibt die Tatsache, dass Mrs. Allerton Wasser trinkt, dass ihr Sohn Whisky mit Soda trinkt und dass ich Wein trinke. Fügen Sie dazu die Tatsache der zwei Nagellackflaschen und das Sprichwort, das ich zitiert habe. Und schließlich kommen wir zur Krux der ganzen Angelegenheit, der Tatsache, dass die Pistole in ein billiges Taschentuch und eine Samtstola gewickelt war und über Bord geworfen wurde…»
Race schwieg lange, dann schüttelte er den Kopf. «Nein», sagte er. «Ich begreifs nicht. Missverstehen Sie mich nicht, ich habe eine vage Idee, worauf Sie hinauswollen, aber soweit ich sehen kann, haut das nicht hin.»
«Doch… doch. Sie sehen nur die halbe Wahrheit. Und vergessen Sie nicht – wir müssen ganz von vorn anfangen, denn unser erster Ansatz war völlig falsch.»
Race verzog leicht das Gesicht. «Daran bin ich gewöhnt. Ich habe oft den Eindruck, Detektivarbeit besteht bloß darin, falsche Ansätze zu löschen und wieder von vorn anzufangen.»
«Ja, sehr wahr, das. Und es ist auch genau das, was manche Leute eben nicht machen. Sie entwerfen eine bestimmte Theorie und in diese Theorie muss alles hineinpassen. Wenn eine Kleinigkeit nicht passt, dann kommt sie weg. Es sind aber immer die nicht passenden Kleinigkeiten, die Bedeutung haben. Die ganze Zeit lang war mir klar, dass die Entfernung der Pistole vom Tatort von Bedeutung ist. Ich wusste, das heißt etwas, aber was dieses Etwas ist, das ist mir erst vor einer knappen halben Stunde klar geworden.»
«Aber ich sehe es immer noch nicht!»
«Gleich werden Sie Klarheit haben. Überlegen Sie anhand der Linien, die ich vorgezeichnet habe. Und jetzt lassen Sie uns diese Sache mit dem Telegramm klären. Das heißt, wenn der Herr Doktor uns lässt.»
Dr. Bessner war immer noch sehr unwirsch. Das Klopfen beantwortete er mit einer finsteren Miene. «Was ist? Sie
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