Der Tod bin ich
jahrzehntelang unterstützt hat?
19.
Georgs Arbeitskittel blähte sich unter der ersten starken Windböe auf. Er stoppte den Traktor und richtete sich auf, um die Wetterlage in Augenschein zu nehmen. Hinter dem Zoller stand eine dunkle Wolkenwand, die schon das Selltal zu verdunkeln begann. In einer halben Stunde würde es regnen, schätzte er. Jetzt hieß es rasch undpräzise arbeiten. Georg war mit dem Fass auf die Weide gefahren, um Gülle auszubringen. Dass bald Regen kam, war angenehm. Der Naturdünger versickerte rascher.
Georg schloss vorsichtshalber jetzt schon Heck- und Frontscheibe, schaltete die Zapfwelle zu und fuhr das ausgedehnte Feld auf und ab. Noch vor den letzten Bahnen prasselten bereits die ersten Tropfen herab. Er brachte die Arbeit zu Ende und machte sich dann rasch Richtung Rettachhof auf. Wie ein grauer Schleier stand ihm der dichte Regen vor Augen. Sturzbäche wanden sich den Berg hinab, aus den überlaufenden Abflussrinnen neben der Straße ergoss sich das Wasser auf die Teerdecke.
Er fuhr dicht an die Scheune heran, öffnete das große Tor selbst, denn Irmi hatte sein Hupen aus der Entfernung nicht gehört. Geübt setzte er Traktor samt Fass in das Innere. Er sprang vom Bock und wollte geschwind ins Haus. Aber die Tür war verschlossen. Fluchend pochte er gegen den Verschlag. Ihn fröstelte. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als ein weiteres Mal in den Regen hinaus um das Haus herum zum Vordereingang zu gehen.
Die Tür ließ sich nur einen Spaltbreit öffnen. Wütend stemmte er sich dagegen. Als er sich endlich Zugang verschafft hatte, sah er, dass Irmi das Hindernis gewesen war. Sie lag am Boden. Zusammen mit dem Teppich hatte er sie zur Wand hin geschoben. Sein Ärger wich dem Schrecken. Warum hatte er sie nicht eher bemerkt? Er beugte sich hinab. Zweifellos war sie tot, aber die Leichenstarre hatte noch nicht eingesetzt. Er rannte zum Telefon.
Kurze Zeit später war ihr Tod mit dem vom Arzt ausgestellten Schein amtlich. Weitere zwei Stunden später hatte Kommissar Slama, der von Hüttenberg heraufgekommen war, die erste Begutachtung des Tatorts abgeschlossen. Wenn es draußen je Spuren gegeben hatte, waren diese vom Regen weggeschwemmt worden. Drinnen ließ sich immerhin feststellen, dass der Mörder das Haus, vor allemdie Stube und die Zimmer der beiden Frauen im ersten Stock, durchsucht hatte. Da nichts zu fehlen schien, blieb rätselhaft, worauf er aus gewesen sein könnte.
Er hatte keine Anhaltspunkte zurückgelassen. Außer der Toten.
Bald stand die Nachmittagssonne wieder strahlend am Himmel. Die Luft war frisch und würzig, und das wieder einsetzende Zwitschern der Vögel nach dem Regen schien stärker als zuvor.
20.
Welche Art von Zufall oder Absicht war es, dass in Ottenrain und Brigau mit so geringem zeitlichen Abstand zwei Menschen, die mir nahestanden, von hinten erschossen wurden? Den ersten Teil der dreieinhalbstündigen Zugfahrt verbrachte ich hin- und hergerissen zwischen Traurigkeit und Grübelei. Wenn hier ein Teller herunterfiel, am Boden zerscherbte und einige Hundert Kilometer weiter ein Kind zu schreien begann, hatte das eine mit dem anderen doch auch nichts zu tun. Eine sinnlose Koinzidenz, die in keine Formel passte. Wenn sich nichts Gemeinsames denken ließ, musste jedes Ereignis für sich allein bleiben, und man hatte die schroffe Unzugänglichkeit dieser Fälle einfach hinzunehmen. Das Einzelne ist beunruhigend, bis es sich einer Ordnung fügt, die darin besteht, eines von vielen zu sein.
Bei meinen Versuchen, ein Muster zu entdecken oder das Unverständliche irgendwohin zu sortieren, fiel mir plötzlich die Beschreibung eines Versuchs ein, die ich in einer Zeitschrift gelesen hatte. Der Artikel hatte mich lange beschäftigt. Dem dort zitierten Experiment zufolge hatten Elektronen eine Blende mit gerade zwei Öffnungen zu passieren, um schließlich auf einen Detektorschirm aufzutreffen, der sich dahinter befand. Betrachtete man das Muster, das sich aus einer großen Zahl von Auftreffpunkten ergab, so zeichnetensich Brechungen und Überlagerungen ab, wie sie Wellen eigen sind. Versuchte man jedoch den Weg eines einzelnen Teilchens nachzuvollziehen, kam man zwingend zu dem Schluss, dass es beide Öffnungen zugleich durchquert haben musste. Ein Unteilbares konnte also an zwei Orten gleichzeitig auftreten. War das noch Physik oder handelte es sich hier schon um Metaphysik? Tatsache ist, dass das Vereinzelte aus den selbstverständlichsten
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