Der Tod bin ich
Gewissheiten ausscheren kann, die wir von dieser Welt haben. Nur kollektiv verhielten sich die Teilchen so, wie wir es von dem großen Bauplan her zu kennen meinen. Aber was war nun richtig? Der Blick auf den Teil oder das Ganze? Der Wechsel der Perspektive veränderte den Sachverhalt komplett.
Schließlich betrat eine junge Frau das Abteil. Ich war sofort abgelenkt. Beim vergeblichen Versuch, ihre Tasche auf die Ablage zu stemmen, entblößte sie einen schlanken Bauch. In Höhe der Hüftknochen rundeten sich tätowierte Schnörkel, die man unwillkürlich weiterdachte. Ich sprang auf und half ihr. Später tranken wir etwas im Speisewagen. Ihr Name war Andrea, leider stieg sie schon in Salzburg aus. Zum Abschied hielt sie mir ihre Wange zum Kuss hin. Ihr Haaransatz roch nach Zimt und Zitrone.
Wieder allein zurück auf meinem Platz, puhlte ich weiter an dem Trübsinn herum, der in meinem Kopf nistete.
Nach allem, was man wusste, gab es keinen Zusammenhang zwischen den Schüssen. Eulmann und Tante Irmi hatten nichts miteinander zu tun. Ein Verbindungsglied existierte nicht. Mit meiner Mutter hatte ich über das seltsame Zusammentreffen der Ereignisse nicht geredet. Sie war einem Gespräch noch gar nicht zugänglich und ging in dem Schmerz über den Tod ihrer Schwägerin völlig auf. Aufgelöst hatte sie mich angerufen und immer wieder unterbrochen von Schluchzen versucht, mir zu erzählen, was in Brigau vorgefallen war. Ich hatte ihr versprochen, sofort zu kommen.
Die Ähnlichkeit der Fälle trieb mich um, ich hatte deswegen Kommissar Bründl in Rosenheim angerufen und ihm den Vorfall geschildert. Er hörte sich meine Ausführungen ruhig an und versprach, den österreichischen Kollegen zu kontaktieren. Seine Versachlichung des Problems war hilfreich, meine Befürchtungen verschwanden dennoch nicht.
Georg holte mich in Hüttenberg ab, dem zu Brigau nächstgelegenen größeren Bahnhof. Wir hatten uns lange nicht mehr gesehen. Sein Schnauzer war grau geworden, er ging gebückt.
– Lass uns noch einen Kaffee trinken, sagte er. Wäre gut, wenn wir vorher miteinander geredet haben.
Kurz darauf saßen wir in der Bahnhofsgaststätte. Alles war wie früher. Ich trank meinen Kaffee schwarz und schob Georg Zucker und Kaffeesahne zu. Er verrührte alles in seiner Tasse, nahm einen ersten vorsichtigen Schluck und leckte anschließend seine Bartspitzen.
– Bleibst du länger?
Ich schüttelte den Kopf.
– Nach der Beerdigung muss ich wieder zurück.
– Wir brauchen Hilfe. Mit deiner Mutter ist im gegenwärtigen Zustand nicht zu rechnen.
– Was denkst du?
– Anni könnte eine Weile ins Haus kommen, für die Alm findet sich noch jemand. Ewald vielleicht, zumindest für dieses Jahr.
Anni war seine Schwester, die unten in Brigau in einer kleinen Wohnung lebte. Ewald war ein Cousin von Georg, seit Langem schon verwitwet. Ein Faktotum inzwischen, das sich beim Auwirt im Gasthaus etwas dazuverdiente. Er spülte, fegte und bediente, wenn Not am Mann war.
Ich nickte.
– Mach wie du meinst.
– Redest du mit ihr?
– Sobald es geht.
Wir tranken aus und fuhren los.
21.
Meine Mutter war ganz in Schwarz gekleidet. Ihre heftige Trauer war in erschöpfte Wortlosigkeit übergegangen. Wir umarmten uns. Mein Zimmer war wie eh und je. An der Wand klebte noch der Star schnitt, den ich damals aufgehängt hatte. Als ich herunterkam, hatte meine Mutter Kässpatzen bereitet. Mein Lieblingsessen in früherer Zeit.
Anderntags fand die Beerdigung statt. Aus jeder Familie im Dorf war wenigstens ein Mitglied gekommen. Der Zug der Trauergemeinde wand sich hinauf zum Kirchhügel. Die Tote war im Seitenschiff aufgebahrt. In den Duft frischer Blumen und Kränze mischte sich das schwere Aroma des Weihrauchs. Ich hielt meine Mutter am Arm.
Der Pfarrer las aus der Bibel, aber ich konnte nicht aufnehmen, was er sagte. Zum ersten Mal seit langer Zeit stieg in mir eine lebhafte Erinnerung an meinen Vater auf. Ich war ein Kind, als er starb. Bei Holzarbeiten im Wald erschlug ihn ein herabfallender Ast. Man hatte ihn auf den Wagen des Pferdefuhrwerks gebettet, mit dem sie losgefahren waren. Schon von Weitem sah man, dass etwas passiert war. Die Pferde trotteten mit gesenkten Köpfen, und der Knecht oben auf dem Bock ließ sie einfach gewähren. Sie kannten ihren Weg. Meine Mutter befahl mir, in der Küche zu bleiben. Durch das Fenster sah ich jedoch, wie sie ihn mit verdrehten Gliedmaßen vom Wagen hoben. Auch dieser Trauergottesdienst fand
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